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Leseprobe

»Ich versuche jeden zu retten« , von Wilm Hosenfeld

 

Wilm Hosenfeld

Ich versuche jeden zu retten«

Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes

herausgegeben von Thomas Vogel

 

Wilm Hosenfeld – ein Retter in Uniform

Eine Tragödie

 

Fünf Jahre lang setzt Wilm Hosenfeld täglich sein Leben aufs Spiel, um anderen zu helfen: Kriegsgefangenen Polen, entflohenen Juden, einem gejagten Priester, überwältigten Freiheitskämpfern. Über einem Dutzend Menschen rettet er das Leben, die genaue Zahl läßt sich heute nicht mehr ermitteln. Doch als er selbst Hilfe braucht, als er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft in Einzelhaft gehalten, wahrscheinlich gefoltert wird, drei Schlaganfälle erleidet, da ist er allein. Der Eiserne Vorhang ist gefallen, der sowjetische Geheimdienst schirmt die Lager ab. Selbst ein polnischer Versuch,Wilm Hosenfeld zu helfen, bleibt fruchtlos.

Die außergewöhnliche Wendung eines gewöhnlichen Lebens Wilm Hosenfeld kommt am 2. Mai 1895 in der Rhön zur Welt. Er ist das siebte von neun Kindern einer katholischen Familie. Der Vater ist Lehrer, Wilm wird ihm darin nachfolgen. Den Ersten Weltkrieg macht der gerade eben examinierte Junglehrer, der im Wandervogel aktiv ist, als Freiwilliger von Anfang an mit. Die hysterische Euphorie, die im August 1914 das national gesinnte Bürgertum ergreift und als August-Erlebnis propagiert wird, reißt auch Wilm Hosenfeld mit. Er kämpft an drei Fronten – in Flandern, Rußland und auf dem Balkan. Dort wird er 1917 so schwer am Oberschenkel verwundet, daß er das Kriegsende in Deutschland erlebt. Den Friedensschluß und den Vertrag von Versailles empfindet der konservative Veteran als nationale Schmach.

Von 1918 an unterrichtet Wilm Hosenfeld als Dorflehrer in verschiedenen hessischen Landgemeinden. 1927 kommt er zusam- men mit seiner Frau und den beiden Kindern (drei weitere kommen in den Jahren danach zur Welt) nach Thalau bei Fulda, hier wird die Familie schließlich seßhaft. Hosenfeld ist neben seiner Dorflehrertätigkeit in der Erwachsenenbildung, der frühen Berufs- und Volkshochschulbewegung engagiert. Er fühlt sich wohl in der Rolle als Pädagoge und sucht Verantwortung für andere zu übernehmen. Denn Hosenfeld glaubt an den Menschen, seine Fähigkeit zur Bewußtseinsbildung, der individuellen Reifung durch Wissen. Die Ideale seiner Jahre in der Wandervogelbewegung werden ihn ein Leben lang begleiten.

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 begrüßt Hosenfeld als ersten Schritt zur Rehabilitierung Deutschlands durch eine Revision des Versailler Friedensvertrags. Er tritt der SA, dem Nationalsozialistischen Lehrerbund und schließlich auch der NSDAP bei. Ein wenig außergewöhnlicher deutscher Lebensweg in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

1936 bekommt diese vermeintliche Musterbiographie bereits einen ersten feinen Riß. Wilm Hosenfeld gerät in Konflikt mit dem herrschenden Regime. Unspektakulär noch, doch ihm wird die Lehrbefugnis an der Berufsschule entzogen – wegen politischer Unzuverlässigkeit. Er hatte öffentlich Kritik am Parteiideologen Rosenberg geübt und sich, als gläubiger Katholik, gegen die Kirchenpolitik der Nazis ausgesprochen.

1939 zieht Wilm Hosenfeld ein zweites Mal in einen Weltkrieg. Für ihn ist es zunächst lediglich der Versuch, Deutschland die ihm zugemessene Größe und Rolle zurückzugeben. In diesem Krieg kämpft Hosenfeld nicht an der Front. Für kurze Zeit leitet er 1939 ein polnisches Kriegsgefangenenlager – und richtet sein Verhalten dort nach dem Kodex des Ersten Weltkrieges aus. In den gefangenen Polen sieht Hosenfeld keine Untermenschen, sondern ehemalige Gegner. So entläßt er etwa auf Bitten einer schwangeren Frau ihren Mann. Den privaten Kontakt zu dieser Familie hält er den ganzen Krieg über.

Bereits im Jahr 1939 liegt das Schlüsselerlebnis, das aus dem politisch naiven Mitläufer Hosenfeld, der von den Nazis ein starkes Deutschland erwartet und seltsam blind ist für ihre Vernichtungsdrohungen gegenüber Oppositionellen und Juden, den couragierten Retter Wladyslaw Szpilmans und anderer werden läßt: Er beobachtet, wie ein SS-Mann einen polnischen Schuljungen abführt, den dieser beim Diebstahl eines Armvolls Heu erwischt hatte. Offenbar soll der Bub dafür erschossen werden. Hosenfeld schreit den SS-Mann an, er könne das Kind doch nicht umbringen. Doch der SS-Mann droht auch Hosenfeld mit der Pistole:»Wenn du nicht sofort verschwindest, legen wir dich auch um.«

Von diesem Zeitpunkt an verändert sich Wilm Hosenfeld. Er begreift, daß dies ein Weltanschauungskrieg ist und mit welchen Mitteln er geführt wird. Und er hat für sich die Loyalität mit dem Nazi-Regime gekündigt. Das zeigt sich darin, daß er Kontakt zu polnischen Familien hält, Polnisch lernt, als einziger Deutscher verbotenerweise an katholischen polnischen Gottesdiensten teilnimmt – einmal sogar in Uniform als Meßdiener in einer geheimen Messe, als ein von Hosenfeld geschützter, untergetauchter polnischer Pfarrer das Jubiläum seiner Priesterweihe feiert.

Von 1940 an ist Wilm Hosenfeld in Warschau als Besatzungsoffizier eingesetzt. Er ist leitender Sportoffizier, betreut die Sportstätten in der polnischen Hauptstadt und die Sportlehrgänge für die Truppen in der Etappe. Zugleich wird er mit der Leitung der »Wehrmachtskurse zur Berufsförderung« betraut, die die Soldaten auf das zivile Leben nach dem Krieg vorbereiten sollen. Hier wird erneut der idealistische Pädagoge sichtbar, der das Weiterleben in der Heimat und die Bildung der Soldaten nicht aus den Augen verliert.

In seiner Funktion als Sportoffizier hat Hosenfeld die Möglichkeit, geflohene Häftlinge und untergetauchte Polen mit falschen Papieren in seiner Dienststelle zu beschäftigen. Damit rettet er diesen Männern das Leben. 1944, während des Warschauer Aufstandes, wird Wilm Hosenfeld als Vernehmungsoffizier eingesetzt, der die gefangengenommenen Aufständischen zu befragen hat. Auch hier stellt er seinen Glauben, seine Menschlichkeit über die Befehle des Regimes. In den Mitgliedern der polnischen Untergrundarmee sieht er, der national denkende Hosenfeld, Patrioten, die für ihr Vaterland kämpfen. In den Brief an seine Frau und im Tagebuch berichtet er immer wieder von seinen Versuchen, diesen Gefangenen zu helfen, sie vor der drohenden Erschießung zu retten.

In den letzten Monaten des Jahres 1944 ist es auch, als Hosenfeld dem durch die Ruinen Warschaus irrenden Wladyslaw Szpilman begegnet. Er versteckt ihn und hält ihn über Wochen am Leben, in dem er ihn mit Nahrungsmitteln versorgt.

Das Jahr 1944 ist, nicht nur für Wilm Hosenfeld, das wohl dramatischste des Krieges. Es ist das Jahr seines letzten Besuches bei der Familie, die er nicht wiedersehen wird. Die Heimat zerfällt unter den Bombenangriffen der Alliierten, deren Landung im Westen Hosenfeld gespannt erwartet, das Attentat auf Hitler scheitert, der Aufstand der polnischen Untergrundarmee in Warschau verblutet,weil die am anderen Weichselufer liegende Rote Armee nicht angreift.Wilm Hosenfeld ist nun aus der Etappe in den Strudel des Krieges hineingerissen. Er bangt dem Ende entgegen und macht sich keine Hoffnungen über dessen Ausgang und die Folgen: Er kennt die deutschen Kriegsgreuel, den Massenmord an den europäischen Juden.

Anfang 1945 gerät Wilm Hosenfeld in sowjetische Kriegsgefangenschaft, in der er 1952 stirbt.

 

Notiz (Thalau), 26. September 1938

Kriegsgefahr! Heute abend Hitlerrede. Sie hat uns nicht gefallen. Er redet maßlos, überheblich, man kann sagen, seine Art ist wenig vornehm, überlegen. Ausdrücke wie »demokratisches Lügenmaul« sind unwürdig eines großen Staatsmannes, der ein großes Volk vertritt. Er will nicht nachgeben.Wir befürchten, daß es Krieg gibt.

 

Notiz (Thalau), 27. September 1938

Jetzt kommt einem doch auch mal zum Bewußtsein, welch große Gefahr die Staatsform der reinen Diktatur hat.Was steht im Wege, wenn Hitler unzugänglich bleibt und das d[eutsche] Volk in den Krieg stürzt? Volksbefragung? Das sind große Worte, in Wirklichkeit wird das Volk nicht gefragt. Ganz anders die Demokratie mit dem Parlament.

 

Notiz (Thalau), 12.November 1938

Judenpogrome in ganz Deutschl[and]. Es sind fürchterliche Zustände im Reich, ohne Recht und Ordnung, dabei nach außen Heuchelei und Lüge.

 

An die Ehefrau Pabianice, 16. September 1939

Liebe Annemarie –

[…] 100 Schritte neben der Kirche ist eine große Fabrik, da sind die Gefangenen untergebracht. Jeden Tag kommen Tausende an. Wir stellen die Wachen ab und zu. Sie werden gut behandelt. Es läßt sich natürlich gar nicht vermeiden, daß auch Härten entstehen, weil die Massen zu groß sind. Aber wie die armen Kerle aussehen! Sie sind sehr ungenügend ausgerüstet und haben entsetzlichen Hunger. Die Deutschen werden sofort ausgeschieden, die Juden und Polen ebenso für sich gestellt. Die Deutschen entläßt man sofort in ihre Heimat. Die Juden haben nichts zu lachen. Mich empört die rohe Behandlung. […]

 

1938|

1939|

 

An die Ehefrau Pabianice, 27. September 1939

Liebste Annemi –

[…] Ich bin von morgens bis abends auf den Beinen. Es gibt so viel zu tun im Gefangenenlager. Die 10 000 Mann haben so viele Bedürfnisse und so großen Hunger.Was ein Stückchen Brot wert ist, das weiß ich jetzt, und was ein guter Blick in der Seele eines Menschen wachrufen kann, habe ich tausendmal erfahren. Ich glaube, die Leute sehen es mir an, daß ich mit ihnen leide; wo ich mich sehen lasse, sind sie um mich herum und sagen mir ihre Wünsche, ich schnauze keinen an und suche zu helfen, wo ich kann. Gestern kamen zwei junge Frauen, deren Männer angeblich unter den Gefangenen sein sollten. Als ich aus dem Tor kam, hingen sie sich an mich und baten mich so flehentlich, ich möchte sie doch ins Lager lassen, daß ich nicht anders konnte. 1000 andere umringen die Tore und Zäune. Der eine konnte etwas deutsch, die anderen nicht, aber ich wußte, wie sie litten und welche Liebe und Angst sie beseelte. Obwohl es ja verboten ist, führte ich sie, im Nu war schon eine große Menge anderer Frauen um mich, durch einen Privatausgang ins Lager. Aber wie sollten sie ihre Männer finden! Ich konnte es nicht mehr mitansehen, wie enttäuscht und unglücklich sie waren, ich mußte leider anderes tun und konnte sie nicht mehr begleiten. »Das ist ein guter Mann«, sagten sie immerfort zu den gefangenen Soldaten, am liebsten hätten sie mich umhalst, und ich hätte es auch gerne getan, aber mir schossen die Tränen in die Augen, und ich ließ sie stehen. Bei anderen hatte ich das Glück, die Gesuchten zu finden.Ach, diese Freude und Seligkeit des Wiedersehens, es ist doch unbeschreiblich. Ich kann es nicht mitansehen, ohne erschüttert zu werden. […]

 

Tagebucheintrag (Warschau), ca. 18.–22. Januar 1942

[…] Die Geschichte berichtet von der Französischen Revolution grausame Tatsachen, erschütternde Unmenschlichkeiten ebenso, wie der bolschewistische Umsturz die tierischen Instinkte haßerfüllter Untermenschen entsetzliche Untaten an der herrschenden Schicht verüben ließ.[…]

Die Methoden der Nationalsozialisten sind andre, im Grund aber verfolgen auch sie den einen Gedanken, die Ausrottung, Vernichtung der Andersdenkenden. Gelegentlich erschießt man soundso viele, auch Volksgenossen, aber man vertuscht und verschweigt es vor [der] Öffentlichkeit, man sperrt sie in Konzentrationslager, läßt sie dort langsam verkommen und zugrunde gehen. […]

 

Tagebucheintrag (Warschau), 23. Juli 1942

Wenn man die Zeitungen liest und den Rundfunkberichten zuhört, dann glaubt man, es sei alles in bester Ordnung, der Frieden sei gesichert, der Krieg schon gewonnen und die Zukunft für das d[eutsche] Volk sei voller Hoffnung.Aber ich kann und kann nicht daran glauben, einfach deshalb nicht, weil das Unrecht auf die Dauer nicht Herr sein kann und weil die deutschen Methoden, die unterworfenen Länder zu beherrschen, früher oder später die Gegenwehr auslösen müssen. Ich überschaue hier ja nur die Verhältnisse in Polen, auch nur in ganz geringem Umfang, weil man das Wenigste erfährt, aber in den vielen Beobachtungen, Gesprächen, Mitteilungen, die einem täglich zukommen, gewinnt man doch ein klares Bild. Mögen die Verwaltungsmethoden und Regierungsmethoden, die Erpressungen in Behandlung der Einwohner, sowie das Vorgehen der G.Sta.Po. [Geheimen Staatspolizei] hier besonders kraß sein, so wird es in den andern unterworfenen Ländern ähnlich sein. – Überall herrscht der ausgesprochene Terror, der Schrecken, die Gewalt.Verhaftungen,Verschleppungen, Erschießungen sind an der Tagesordnung. Das Leben eines Menschen, geschweige die persönliche Freiheit, spielen überhaupt keine Rolle. Aber der Freiheitstrieb ist jedem Menschen und jedem Volk eingeboren

 

1942|

und wird auf die Dauer nicht unterdrückt werden können. Die Geschichte lehrt, daß die Tyrannei immer von kurzer Dauer war. Nun kommt noch das entsetzliche Unrecht der Blutschuld an der Ermordung der jüdischen Bewohner auf unsre Rechnung. Gegenwärtig läuft eine Vernichtungsaktion der Juden, die zwar seit der Besetzung der Ostgebiete Ziel der deutschen zivilen Verwaltung unter Zuhilfenahme der Polizei und der G.Stapo. war, aber jetzt scheinbar großzügig und radikal gelöst werden soll Es wird glaubhaft von den verschiedensten Leuten berichtet, daß man das Ghetto in Lublin ausgefegt hat, die Juden daraus vertrieben und sie massenweise ermordet, in die Wälder getrieben hat und zu einem kleinen Teil in einem Lager eingesperrt hat.Von Litzmannstadt, von Kutno wird erzählt, daß man die Juden, Männer, Frauen, Kinder, in fahrbaren Gaswagen vergiftet, den Toten die Kleider auszieht, sie in Massengräber wirft und die Kleider zur weiteren Verwendung den Textilfabriken zuführt. Entsetzliche Szenen sollen sich abspielen. Jetzt ist man dabei, das Warschauer Ghetto, das etwa 400 000 Menschen zählt, auf ähnliche Weise zu leeren. Statt der deutschen Polizei hat man ukrainische und litauische Polizeibataillone dazu herangeholt. Aber man kann das alles nicht glauben, ich wehre mich dagegen, es zu glauben, nicht nur aus Sorge für die Zukunft unseres Volkes, das ja einmal diese Ungeheuerlichkeiten büßen muß, sondern deswegen, weil ich nicht glauben will, daß Hitler so etwas will, daß es deutsche Menschen gibt, die solche Befehle geben. Es gibt nur eine Erklärung, sie sind krank, anormal oder wahnsinnig. […]

 

Tagebucheintrag Warschau, 13.August 1942

Ein polnischer Kaufmann aus Posen, der zu Anfang des Krieges von dort ausgewiesen wurde, hat hier in W[arschau] ein Geschäft. Er verkauft mir oft Gemüse, Obst und dergleichen. Im [Ersten] Weltkrieg hat er als deutscher Soldat 4 Jahre lang an der Westfront gestanden. Er zeigte mir sein Soldbuch. Dieser Mann sympathisiert stark mit den Deutschen, ist aber Pole und bleibt es. Er ist ganz verzweifelt wegen der furchtbaren Grausamkeiten, der viehischen Rohheiten, die im Ghetto von den D[eutschen] verübt werden. Man muß sich immer wieder fragen, wie ist das möglich, daß unser Volk ein solches viehisches Gesindel beherbergt. Hat man aus den Zuchthäusern oder Irrenanstalten die Verbrecher und Anormalen herausgelassen und verwendet sie hier als Bluthunde? Nein, es sind Leute, die eine Rolle spielen im Staat, die dies Erziehungswerk vollbracht haben an sonst harmlosen Volksgenossen. Im Grunde des Menschen ist viel Bosheit und Tierhaftigkeit. Diese Instinkte treten leicht offen zu Tage, wenn sie sich hemmungslos entfalten dürfen; ja, man braucht diese niedrigen Instinkte, um dies Morden, Töten an den Juden und Polen zu verüben. Dieser Kaufmann hat geschäftliche Beziehungen zu Juden im Ghetto und kommt sehr oft dorthin. Er sagt, daß es nicht zu ertragen ist, was man dort sieht. Ihm graut, dorthin zu gehen. Er fährt in einer Rikscha durch die Straße. Er sieht, wie ein G.Sta.Po.-Mann in einen Hausgang eine Anzahl Juden, Männer, Frauen und Kinder, hineindrängt und dann wahllos in diesen Menschenhaufen hinein- schießt. Gleich 10 Personen sind getötet und verwundet. Ein Mann läuft weg, auf ihn legt er auch die Pistole an, aber das Magazin ist leer. Die Verwundeten sterben, kein Mensch hilft ihnen, die Ärzte sind schon weggeschleppt oder getötet, außerdem sollen sie ja sterben. Eine Frau erzählte meinem Gewährsmann, mehrere G.Sta.Po.-Männer sind in die jüdische Entbindungsanstalt eingedrungen, haben die Säuglinge weggenommen, in einen Sack gesteckt und sind damit fort, um sie auf einen Leichenwagen zu werfen. Das Gewimmer der kleinen Kinder wie das herzzerreißende Geschrei der Mütter rührt diese Ruchlosen nicht. Man glaubt das alles nicht, trotzdem es wahr ist.Zwei solcher Tiere fuhren gestern auf der selben Straßenbahn. Sie hatten Peitschen in der Hand und kamen aus dem Ghetto.Am liebsten hätte ich die Hunde unter die Straßenbahn gestoßen. – Was sind wir Feiglinge, daß wir, die besser sein wollenden, das alles geschehen lassen; darum werden wir auch mitgestraft werden, auch unsre unschuldigen Kinder wird es treffen, denn wir machen uns mitschuldig, indem wir die Frevel zulassen.

 

An den Sohn Warschau, 18.August 1942

Lieber Helmut –

[…] Der moderne Mensch des Maschinenzeitalters, der Technik, der Beherrschung der Naturkräfte ist seelenlos, ungeistig geworden, töricht und hochmütig. Gewiß ist es erstaunlich, was wir alles können, wie wir in die Geheimnisse der Natur eindringen, einen Schleier nach dem anderen wegreißen, um sie zu entgöttlichen; dann stehen sie wie die Gaffer, wie die Kinder, wenn sie die Mechanik ihres Spielzeugs zerstört haben und die Teile in den ungeschickten Händen halten und nichts damit anzufangen wissen. Selbst unseren größten Forschern geht es nicht anders wie diesen Kindern, auch sie wissen nichts von den großen Geheimnissen des Lebens, so wenig, wie das Kind etwas von den physikalischen Gesetzen seines Spielzeugs.Wenn man nach dem Grunde dieses Krieges fragen möchte und mit unseren gewöhnlichen Erklärungen zur Hand ist, dann kommt man nicht weit, da gibt’s nichts als Widersprüche und Sinnlosigkei- ten. Man muß alles so hinnehmen, wie’s kommt, auf sich selbst aber Bedacht haben, daß man sein Wesen entdeckt und ihm treu bleibt und seinen Weg geht. Ich las heute früh ein Kapitel in der »Nachfolge Christi« von Thomas von Kempis. Da sind weise Worte und Gedanken: »Mein Sohn, laß dich nicht fangen durch schöne und tiefsinnige Menschenworte: Denn nicht in Worten besteht das Reich Gottes, sondern in der Kraft.« – Nur in dem Maße nähert sich der Mensch Gott, als er auf jeden Menschentrost verzichtet. Um so höher schwingt er sich auch zu Gott empor, je tiefer er sich in sich selbst versenkt, und je weniger er von sich selbst hält. – Was für ganz andere Gesinnungen als die dummen Prahlereien, die Anmaßung und Selbstverhimmelung, der Machtanspruch, die Vergewaltigung anderer Menschen! […]

 

An Ehefrau und Kinder Warschau, 13.Dezember 1942

Meine Annemie, liebe drei –

wie ist das Leben gleich wieder gut und schön, wenn einem so eine Zentnerlast vom Herzen genommen ist. Helmut hat einen Luftpostbrief vom 1. Dezember an mich heute geschrieben. Er ist sehr kurz, aber doch so inhaltsreich. Ich lege ihn bei. Es ist alles so, wie ich ahnte. Er hat mit in dem Schlamassel bei St[alingrad] gesteckt und konnte nicht schreiben, beziehungsweise es war wohl keine Gelegenheit, daß Post abging. Das waren bange Wochen, so habe ich mich noch nicht um den guten Kerl gesorgt wie diesmal. In einer Nacht war es mir gerade, als wollte ich vor Angst vergehen. Ich habe so tüchtig gebetet. Dann habe ich mich wieder beruhigt. In der letzten Zeit war ich wieder zuversichtlich. Aber was ich heute für eine Freude hatte! Ich schickte Dir gleich ein Telegramm, Du hast vielleicht noch nichts von ihm bekommen. […]

 

Tagebucheintrag (Warschau), 25. Januar 1943

Von der Front kommen böse Nachrichten. Im Norden ist der starke Stützpunkt, Eisenbahnschnittpunkt und Stapelplatz Weliki- Luki gefallen, im Süden streben die Russen auf Rostow zu. Die 6. Armee vor Stalingrad ist seit Wochen eingeschlossen. Gleichzeitig ist die Nachschublinie zu den Divisionen im Kaukasus bedroht, die Front am Terek ist schon zusammengebrochen. Die Russen stehn in Armenien.Wenn es uns nicht gelingt, sie zu halten, bricht der ganze Kaukasus zusammen. In Afrika wird das Afrikakorps immer enger zusammengepreßt, schon ist Tripolis verloren. Angesichts dieser Hiobsbotschaften ist es unbegreiflich, daß die Schandtaten gegen die polnische Bevölkerung sich eher noch steigern.Von ganz unglaublichen Vorgängen wird hier berichtet. In der Lubliner Gegend und bei Zamosc bei Krakau werden die Bauern aus ihren Dörfern vertrieben, Männer und Frauen in Lager verschickt, die alten Leute erschossen und die Kinder in Transportzügen irgendwohin verfrachtet. Im Alter von 2–14 Jahren verschleppt man sie. Ein solcher Zug kam dieser Tage durch Warschau. Auf dem Bahnhof Praga wurden die Wagen geöffnet. Ein großer Teil war verhungert und erfroren. Die Zivilbevölkerung stürmte die Wagen und wollte die Kinder retten und mit nach Hause nehmen. Das wurde aber verboten, die Wagen wurden geschlossen, und der Zug fuhr mit den unglücklichen Kindern, ohne daß man die Toten herausnahm, weiter. Er soll irgendwohin nach Deutschland verschleppt werden. Man fragt sich, ob die Menschen, die das befehlen, wahnsinnig sind. In W[arschau] werden wahre Menschenjagden abgehalten, auf der Straße, sogar in die Kirchen und Privatwohnungen dringt die Polizei ein und verhaftet wahllos,wer ihr in die Hände fällt. Niemand weiß, was mit den Opfern geschieht. Ob man glaubt, wir verlieren den Krieg, und will die Zivilbevölkerung als Geiseln behalten, oder, wie ein Kamerad meint, es soll durch diese Schandtaten die Kluft und der Haß immer größer werden, daß es kein Zurück mehr für uns gibt als Vernichtungskampf bis zum letzten Mann.

|1943

 

An den Sohn Warschau, 16. Februar 1943

Mein lieber Helmut –

bei all dem Trubel hätte ich beinahe Deinen Geburtstag verschwitzt. Mein lieber Junge, Du bist uns neu geschenkt worden, und ich bin dem lieben Gott für dieses Glück so unendlich dankbar. Mir ist es jetzt zur Gewißheit geworden, daß wir Dich behalten dürfen. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, und Du wirst auch wieder ins Feld ziehn müssen. Aber zweimal hat Dich das Schicksal schon herausgeholt. Und so hoffe ich, daß es auch weiterhin gutgeht. […]

Nun bist Du schon 22 Jahre. Mit 23 kam ich aus dem Krieg zurück.Wolle Gott, daß Du auch in diesem Alter frei wärest. Es hat so den Anschein, daß es dieses Jahr zu Ende geht, aber nicht so, wie wir es uns dachten. Die Sorge um die Zukunft läßt einen gar nicht mehr los. Ihr jungen Menschen, die der Krieg übrigließ, geht in diese neue Zeit hinein, wir können Euch nichts mitgeben an materiellen Dingen und nichts, was in unserer Jugend Sinn und Ideal waren, Eure Ideale brechen wie Phantome zusammen. Eine ganz neue Welt habt Ihr aufzurichten, allem, was hinter Euch liegt, müßt Ihr abschwören. Es wird Euch auch gar nicht so schwerfallen, denn das meiste war Äußerlichkeit, Schein und Überheblichkeit ohne echten Wesenskern.

Ich rechne Dich zu meiner großen Freude zu den jungen Men- schen, die das frühzeitig erkannten, teils aus innerer Veranlagung, teils als Mitgift der Erziehung. Es ist schon eine ungeheure Aufgabe, unser Volk wieder zu Ehren zu bringen, ohne Vergleich mit dem [Ersten] Weltkrieg, denn das Ehrenschild ist zu sehr besudelt worden.Wir haben es gar nicht nötig, über die Welt zu herrschen, unser Schicksal ist nicht das der Engländer, sondern das der Dichter und Denker. Darin sind wir groß und unerreicht. Jetzt stößt uns das Erbe dieses Krieges auf unsere eigentliche Aufgabe zurück. Eure Generation kann erst wieder damit rechnen, bessere Tage (materiell gesehen) zu erleben. Für uns ist für den Rest unseres Lebens ein stilles, bescheidenes Genügen und ein Freuen an den Kindern ein Geschenk.Was hätten wir auch davon gehabt,wenn jeder Arbeiter seinen Volkswagen in der Gegend herumgefahren hätte? Den tieferen Sinn und das schönere Reich hatten wir schon ganz verloren. Daß wir es in einem fremden Land suchten, müssen wir mit viel Blut bezahlen. Ein Volk muß immer mit dem Blut seiner besten Männer bezahlen.Wen das Schicksal für wert hält, es weiterzutragen, ist ein Berufener. Es hat alles einen Sinn, auch das Gemetzel im Osten. Für Dein künftiges Jahr wünsche ich Dir das Beste, in Treue, Dein Vater

 

Tagebucheintrag (Warschau), 19. Februar 1943

Gestern Abend hielt Dr. Goebbels im Sportpalast eine Rede. Den Anlaß zu dieser Kundgebung weiß ich nicht.Wahrscheinlich ist es nötig, das Volk vorzubereiten auf die großen Niederlagen im Osten. Charkow ist geräumt, Orel stark bedroht. Das ganze Donezbecken geht mit Rostow verloren, die Kaukasusfront ist zusammengebrochen. – Dr. Goebbels hielt eine Art Volksbefragung ab. Er stellte 10 Fragen an die anwesenden Volksgenossen, zum Beispiel: »Seid Ihr gewillt, noch härtere, brutalere Schläge zu ertragen?«, oder: »Vertraut Ihr dem Führer? Seid Ihr bereit, den Krieg bis zum siegreichen Ende durchzuhalten? «, und anderes mehr. Darauf antwortete die Masse mit tosendem »Ja«. Er sagte, daß die Versammlung ein Ausschnitt des gesamten Volkes sei. Die Antwort sollte das feindliche Ausland, besonders England, hören. So eindrucksvoll eine solche Volkskundgebung gerade heute gewesen wäre, wenn das Volk in seiner Gesamtheit hätte sprechen können, so wenig überzeugend wirkte sie vor diesem ausgesuchten Teil der Berliner Bevölkerung. Es kam mir wie ein Kasperletheater vor Kindern vor, wo der Kasperle die Kinder fragt: »Seid Ihr alle hier?« Für die, die nicht da sind, können sie ja nicht antworten.Wenn die Mütter und Väter der Gefallenen, die Bombengeschädigten in den Städten befragt worden wären, hätte die Antwort sicher anders gelautet.Wozu so ein Theater, wir wissen doch alle ganz genau, daß es für uns gar keine andre Wahl bleibt [sic!], als zu kämpfen und zu opfern und alles auf uns zu nehmen, um die furchtbare Gefahr aus dem Osten zu bannen. Mit solchen billigen Mätzchen wird keine Stimmung gemacht. Die haben wir gar nicht nötig. Das sind Äußerlichkeiten, worüber unsere Feinde nur lachen. Es ist gerade so wie hier in Warschau mit der Umbenennung der polnischen Straßenbezeichnungen. Die deutsche Stadtverwaltung glaubt, wenn deutsche Straßenschilder statt der poln[ischen] angeschlagen wären, dann sei W[arschau] eine deutsche Stadt. – Eine verfängliche Frage lautete: »Wollt Ihr, daß derjenige, der sich am Krieg bereichert, den Kopf verliert?« »Ja«, antwortet die Masse.Wieviele Deutsche von SD [Sicherheits- dienst der SS] und der Zivilverwaltung, von der Eisenbahn müssen da geköpft werden? In der schamlosesten Weise bereichern die sich hier.

 

Tagebucheintrag (Warschau), 1. Januar 1944

Die deutschen Zeitungen regen sich darüber auf, daß die Amerikaner Kunstschätze in Süditalien beschlagnahmen und entführen. Dieses Geschrei über die Verbrechen der andern hört sich recht einfältig an. Als ob die Gegner nicht wüßten, was wir in Polen an Kunstschätzen uns angeeignet und fortgeführt haben und was wir in Rußland zerstört haben.

 

An die Ehefrau Warschau, 12. Januar 1944

[…] Was brauchst Du Dir für Sorgen wegen der Erziehung zu machen. Du machst es ganz richtig, besser kann ich es nicht. Und Du hast ja meist nichts von meiner Erziehungskunst gehalten. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß unsere Kinder so glücklich veranlagt sind, daß wir weiter nichts zu tun übrig haben, als ihre Anlagen sich nach der positiven Seite entwickeln zu lassen, und sie im übrigen bewahren müssen. – Du sollst nicht versuchen, mich zu verstehen, das kann ich gar nicht mehr hören.Was ist denn nur an mir zu verstehen? Ich bin [ein] alltäglicher Mensch und beanspruche keine Sonderrechte und habe nicht mehr falsch gemacht, als was andre auch gemacht hätten, und jetzt will ich alles richtig machen und habe nur einen Wunsch, an Deiner Hand zu gehen. Ich bete für Dich und mich, daß wir uns erhalten bleiben. Kraft und Mut strömen Dir aus Deinen Aufgaben zu. Ich hoffe und erwarte noch viel vom Leben und freue mich unbändig auf die Zeit, in der wir beieinander sein werden und nie mehr auseinander gehen werden.

[…]

|1944

 

Tagebucheintrag (Warschau), 29. Februar 1944

[…] Abends war ich zu einem Schulungsabend zu der Frontleitstelle kommandiert mit Oberleutnant Strauch von Ic. Bei dieser Dienststelle ist ein Hauptmann Müller, Gaupropagandaredner, der den dienstlichen weltanschaulichen Unterricht da leitet. Sein Bestreben ist, möglichst bei den oberen Dienststellen aufzufallen, deshalb wurde diese Sache dort aufgezogen. Es handelte sich um den Abschlußabend einer mehrwöchigen Gemeinschaftsarbeit. Stubenweise wurde den Soldaten ein Thema gestellt, über das sie sprechen sollten.An diesem Abend hielt ein Vertreter der einzelnen Stubengemeinschaften ein kurzes Referat über ein Sachgebiet: zum Beispiel Bombenterror, Ostfront, Ostasien, Italien, Feindpropaganda,Tonnagekrieg. Die Sprecher versuchten nun, eine Darstellung zu geben, bei der die eigene Seite in hellstem Licht erstrahlte, während auf der andern Seite alles schwarz gemacht wurde.Wo die Tatsachen dem entgegenstanden, sparte man nicht mit Vorschuß auf günstige Entwicklungsmöglichkeiten der Zukunft. Der Propagandaredner selbst unterstrich dann in drastischen Worten jedesmal das Gesagte. Ich war denkbar betroffen über soviel Dummheit und Gedankenlosigkeit. Das ganze war so ein recht typischer Nazirummel. Ohne Sachkenntnis, ohne Nachdenken großes Wortemachen. Das ist nun die geistige Führung.Wie viele denkende Männer rücken aber innerlich ab und sind in tiefstem Grunde abgestoßen. Die Masse macht mit. Es soll ja immer auf die ankommen. Aber einmal wird ein Erwachen kommen.

Nachher waren die Offiziere im Kasino noch zusammen. Bald bildeten sich zwei Gruppen. Die eine, der Propagandaoffizier an der Spitze, mit dem üblichen Phrasengerede, die andre, die es wagte, ihre andre Einstellung zu bekunden. Ich habe den Eindruck wieder mal bekommen, daß wir unserm Verderben entgegeneilen müssen,weil keine Männer da sind, die mit Mannesmut dem Schicksal entgegenzutreten gewillt sind.

 

An die Ehefrau (Warschau), 25. März 1944

Meine liebe Annemie –

meine Briefe bleiben anscheinend lange auf dem Weg, deswegen will ich Dir heute schon den Geburtstagsbrief schreiben. Zu Deinem 46. Geburtstag wünsche ich Dir das Beste, was nur zu denken ist, Gesundheit, Kraft und frohen Mut, das Schwere der Trennung zu ertragen und die Last der Sorgen mit frohem Gottvertrauen zu überwinden. Und vor allem soll das künftige Lebensjahr Dir wieder ganz und gar das glückliche Bewußtsein geben, daß wir zwei unzertrennlich sind und uns unverbrüchlich liebhaben. Aber auch noch ein anderer großer Wunsch soll in Erfüllung gehen, der Frieden soll bald kommen.Auch auf die Gefahr hin, daß Du mich wieder einen unverbesserlichen Optimisten schiltst, glaube ich dennoch, daß es in diesem Sommer zu Ende geht. Möchten wir dann doch alle mit Gottes Hilfe wieder gesund vereinigt sein. Der Frieden wird sehr schwer sein, das kann gar nicht anders sein.Wir alle müssen doch helfen, die zerstörten Städte wieder aufzubauen und den heimatlosen Menschen ein Obdach zu geben und für ihren Unterhalt zu sorgen. In den ersten Jahren wird ein großer Mangel an allen Wirtschaftsgütern, Nahrungsmitteln, Kleidung, Haushaltsgeräten sein. Jahrelang hat die Industrie nichts mehr erzeugt, und die Bedürfnisse sind ins Ungemessene gestiegen. Die Gehälter der Beamten werden herabgesetzt werden, ebenso die Löhne der Arbeiter. Mit einem Minimum an Lebensansprüchen werden wir uns bescheiden müssen.All diese Aufgaben aber können nur gelöst werden mit einer ganz andern Lebensauffassung, mit der wirklichen christlichen Haltung der brüderlichen Liebe und mit dem ganzen Ernst der Verwirklichung der sozialen Idee. Ich befürchte nicht, daß die Haßinstinkte der Sieger über uns hereinbrechen werden und uns zu Sklaven machen werden und Vergeltung üben für alle Schandtaten. Die Friedenssehnsucht und die Bestrebungen zum Wiedergutmachen sind in jedem Volk lebendig geworden. Ein wirkliches, großartiges demokratisches Zeitalter wird kommen. Auch unsere jetzigen Feinde wissen, daß der Großteil unseres Volkes unschuldig ist an den schrecklichen Kriegsleiden, und sie wissen auch, daß wir wie kein anderes Volk die größten Opfer und die schwersten Leiden hinzunehmen haben.Auch sie sehen, daß der Krieg ein schreckliches Unglück ist, das wie eine Naturkatastrophe über die Welt hereingebrochen ist, wofür der einzelne Mensch, auch nicht das einzelne Volk, verantwortlich zu machen ist.Wenn ich in der Unterhaltung mit andern Menschen immer wieder höre, es lohnt sich nicht mehr zu leben, wenn wir den Krieg verlieren, dann spüre ich mit aller Deutlichkeit, daß [sich] damit eine Gesinnung offenbart, die nicht in diese neue Zeit paßt und sich deswegen nicht zurechtfinden kann. Der materialistisch gerichtete Geist der Zeitgenossen verliert mit einem Mal alles, worauf sein ganzer Sinn gerichtet war: auf ein immer bequemeres, genußreicheres Dasein. Viele, die heute noch an einen siegreichen Ausgang glauben – ob sie es glauben, weiß ich nicht, jedenfalls reden sie davon – die leben noch immer in den seit Jahren gehegten und immer wieder vorgebrachten Illusionen, daß wir ein besonderes Schicksal verdienen auf Kosten anderer Völker. Das ist der Wahnsinn von dem auserwählten Volk, das wir, da es den Juden abgesprochen wurde, für uns in Anspruch nehmen.Wenn der äußere Glanz und Schimmer verloren und die Machtpläne gescheitert sind, dann ist der Traum vom Ewigen Reich aus für diese Leute.

So lange die Erde besteht, sind nicht solche Massen in Bewegung gewesen wie in diesem Krieg.Angefangen von den flüchtenden und zurückflutenden Grenzbewohnern in Polen, den umgesiedelten Volksdeutschen, den Flüchtlingen in Frankreich, jetzt in Italien, in Rußland. Zwei-, dreimal sind die Menschen davongetrieben worden. Die russ[ische] Zivilbevölkerung hat Unsägliches erduldet. Dann die Ausrottung mehrerer Millionen Juden, die Vernichtung der deutschen Städte und die Zerstreuung ihrer Einwohner, dazu kommen Millionen Fremdvölkischer, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht wurden, und über all dem stehen sich die Millionenheere der feindlichen Völker zur gegenseitigen Vernichtung gegenüber. […]

 

An die Ehefrau Warschau, 15. Juni 1944

Meine liebe Annemie –

herzlichen Dank für Deinen lieben Brief vom 11. des Monats. Was kann man viel sagen über die jüngsten Ereignisse im Westen. Für mich ist der Ausgang nicht zweifelhaft. Schade für das viele Blut, das noch geopfert werden muß. Eine Hoffnung auf das nächste Wiedersehen muß man in dieser Zeit zurückstellen. Ja, es war so wunderschön bei Dir! Es kommt alles wieder, daran glaube ich ganz fest. Für jeden Tag, den ich noch in Ruhe genießen kann, bin ich dankbar, denn ich weiß, es wird nicht so bleiben. Eines Tages heißt es packen und weiterwandern. Seit einigen Tagen besuchen uns auch wieder die russ[ischen] Flieger. Bis jetzt haben sie in der Stadt nichts angerichtet. Aber das kommt noch. Ich gebe mich da keiner Täuschung hin. – Morgen ist Herz-Jesu-Fest. Ich werde in die Kirche in meiner Nachbarschaft gehen. Herr C[ieciora] erzählte mir, daß die Deutschen in seiner Heimatstadt eine große H[erz]-J[esu]-Bronzefigur, die vor dem Schloß stand, beseitigt haben. Da ist mir so recht klar geworden, die permanenten Dinge auf der Welt sind doch nur im Reich des Geistes zu finden. Die sichtbaren Dinge können beseitigt, zerstört und vernichtet werden, die unwirklichen sind diesem Zugriff entzogen. Das moderne Heidentum kann sie wohl vergessen und auch auszurotten versuchen, irgendwo und irgendwann sprießen sie wieder auf und zeigen ihre Macht. Das Übersinnliche ist das wahrhaft Wirkliche. Erziehe die Kinder in der Gottesfurcht. Du bist erstaunt, daß ich so etwas schreibe. Aber es ist mir ernst, und ich weiß, daß wir sonst auf Sand bauen. […]

 

Tagebucheintrag (Warschau), 22. Juni 1944

3. Jahrestag des Überfalls auf Rußland. Heute erkennt man, dass es nichts weiter war.Wir haben Rußl[and] überfallen.

 

An Ehefrau und Kinder Warschau, 24. Juli 1944

Meine liebe Annemie, liebe Kinder –

[…] Was jetzt hier in Warschau vor sich geht, könnt Ihr Euch schwer vorstellen. Seit gestern wird evakuiert. Zuerst Frauen und Kinder, natürlich nur die deutsche Zivilbevölkerung. Auf allen Straßen jagen die Lastautos, in den deutschen Vierteln stehn die Möbelwagen. Die Leute dürfen nur die notwendigsten Sachen mitnehmen. Was sie sich in den Kriegsjahren hier erworben, müssen sie zurücklassen. Meist war es beschlagnahmtes Eigentum. Die Lastautos sind hoch bepackt mit Kisten und Säcken, Bettzeug und Haushaltsgeschirr, und obendrauf hocken die Flüchtlinge. Ja, man kann schon von einer Flucht reden. Die Lager und Fabriken, in denen noch riesige Vorräte liegen, schaffen fort, was möglich ist, aber das meiste wird man in die Luft sprengen müssen oder anzünden.Was die höhere Führung vorhat, ob W[arschau] nun doch verteidigt werden soll, oder ob wir zurückgehen, man erfährt nichts. Gestern war schon großer Wirbel. Bis 10 Uhr sollte alles fertig sein zum Abmarsch. Dann haben wir den ganzen Tag gewartet. Der heutige Tag, Montag, ist auch schon bald herum, und niemand weiß etwas Bestimmtes. Bleibe ich hier oder nicht, werden Kampfhandlungen sein oder nicht? Vor kurzem wurde verlautet, die Stadt wird nicht als fester Platz angesehen, aber ein Befehl stößt den andern um. Man kann nicht wissen, was die nächste Stunde bringt. Meine Sachen habe ich natürlich alle gepackt, aber ob wir viel mitkriegen, ist noch die Frage. […]

 

An Ehefrau und Kinder Warschau, 6.August 1944

Meine Lieben, liebe Annemie, liebe Kinder –

wenn ich mal ein wenig Zeit habe, dann wandern meine Gedanken zu Euch. Ach, wie fern seid Ihr mir gerückt. Alle Gefühle und Gedanken versinken in dem unermeßlichen Unglück um uns herum. Gott sei Dank habe ich keine Zeit, gefühlvoll meinen Gedanken und meiner Sehnsucht nachzuhängen. Als der Aufstand losbrach, wußte ich, daß unsere Lage ernst sein würde. Denn ich kannte die hiesigen Verhältnisse, während viele meiner hierher gekommenen Herrn sich über die Zähigkeit der Aufständischen täuschten. Der Verlauf dieser Woche hat mir leider rechtgegeben. Selbst Einsatz von Panzern und schweres Luftbombardement auf Widerstandsteile der Aufständischen zeigen keinen großen Eindruck zu machen [sic!]. Straßenzüge werden planmäßig abgebrannt, die Zivilbevölkerung flüchtet irgendwohin, Aufständische besetzen die Trümmer und schießen weiter.Was sich auf der Straße sehen läßt, wird erschossen. Das scheint das Finale dieses entsetzlichen Krieges für W[arschau] zu sein. – Heute ist Sonntag. Ich habe mich kaum daran erinnert. […]

 

An Ehefrau und Kinder Warschau, 8.August 1944

Liebe Annemie, liebe Kinder –

wenn ich auch nach Euch der Reihe nach frage, nach Helmut, Detlev besonders, Ihr könnt meine Frage ja nicht beantworten. Post erreicht uns in dem eingeschlossenen Warschau nicht. Die Lage hat sich nicht zu unsern Gunsten viel gebessert. Von Stunde zu Stunde sinkt die Stadt durch Feuersbrünste und Bomben mehr in Trümmer. Systematisch müssen die Straßenzüge angebrannt werden. Man muß seine Augen und sein Herz verschließen. Mitleidlos wird die Bevölkerung vernichtet. – Zahlreiche deutsche Städte liegen ja auch in Trümmern! Ich begreife jetzt den Sinn des Krieges. Der stolze, überhebliche, gottvergessene Mensch soll sich gegenseitig umbringen.

 

[…]

Tagebucheintrag (Warschau), 9.August 1944

[…] Ich habe mich mit dem Gedanken abgefunden, daß ich aus W[arschau] nicht mehr herauskomme. Der günstigste Fall wäre russ[ische] Gefangenschaft. Erstaunlich ist, daß viele Offiziere die Lage völlig verkennen und sich immer noch Hoffnung ma- chen, wir würden mit den Aufständischen fertig, ja sogar, so meinen sie, wir wären imstande, die Russ[en] an der Weichsel aufzuhalten.

 

Tagebucheintrag Warschau, 11.August 1944

Ich war heute morgen im Palais Brühl. Von der deutschen Zivilverwaltung war dieser historische Bau aus der Rokokozeit ganz besonders schön gepflegt und hergerichtet worden, außen renoviert und innen bis in den äußersten Winkel mit größter Sorgfalt geschont.Wenn ich in das Palais hineinkam, war es mir immer ein Genuß, mich darin aufzuhalten und die Räume zu betrachten. […] Im Arbeitszimmer des Gouverneurs sieht es toll aus, ein Greuel der Verwüstung. Diesen Gesellen (SS-Leuten von einem B.Btl. [Bewährungs-Bataillon]) macht es geradezu eine Freude, alles zu zerstören, hinter sich Schweinerei und Chaos zu lassen. In einem halbdunklen Raum, mit kostbaren Möbeln ausgestattet, sitzt der Standartenführer Dörlewanger [Dirlewanger], der Führer dieses Haufens. An der Tischecke, ein dicker, ungeschlachter Kerl mit einer fürchterlichen Visage, im Hemd, Ärmel hoch aufgewickelt, wie ein Schlachter.

 

An Ehefrau und Kinder Warschau, 13.August 1944

Meine Lieben –

es wird schon wieder Abend; glaubt Ihr, ich habe nicht gewußt, was es heute für ein Tag war.Vorhin rechnete einer nach und sagte, es sei Sonntag. Ich war ganz überrascht, und fast habe ich mich geschämt, daß ich daran nicht gedacht habe.Aber bei dem schrecklichen Wirrwarr um uns herum, dem Kampfgetöse in den Ohren, kann man keinen friedlichen Gedanken schöpfen. Dann fingen heute früh auch gleich wieder die Vernehmungen der Gefangenen an. Sie waren verwundet. Ich habe es durchgesetzt, daß sie behandelt wurden. Bei dem unermeßlichen Leid fällt es natürlich nicht ins Gewicht, wenn man mal dem oder jenem hilft.Aber wie glücklich sind die Menschen,wenn sie nur ein wenig Herz spüren. […]

 

An Ehefrau und Kinder Warschau, 23.August 1944

Liebste Annemi, meine lieben Kinder –

[…] Jeden Tag habe ich Verhöre durchzuführen. Heute wieder ein Aktivist und ein 16jähriges Mädchen.Aber es war aus beiden nichts herauszukriegen.Vielleicht kann ich das Mädchen retten. Eine Studentin wurde gestern vorgeführt. Sie ist auch auf so eine dumme Weise in die Widerstandsbewegung hineingeraten. Dann ein polnischer Oberwachtmeister der Polizei. 56 Jahre. Aus reinstem Patriotismus handeln diese Menschen, aber wir können sie nicht schonen. Ich versuche jeden zu retten, der zu retten ist. Den Polizisten hoffe ich auch durchzubringen. Ich bin nicht der Mensch dazu, solche Untersuchungen zu führen, wenigstens nicht mit der Herzlosigkeit, die hier am Platze wäre und meist angewendet wird. Und doch bin ich dankbar, daß ich das machen muß, denn ich kann doch manches noch gut machen. […]

 

An Ehefrau und die Töchter Warschau, 27.August 1944

Meine liebe Annemie – liebe Mädels –

ich bin heute noch zu keinem besinnlichen Gedanken gekommen, geschweige zu einem stillen, frommen. Es war gerade nichts Aufregendes los, aber doch immer etwas anderes, was mich in Anspruch hielt. Da waren wieder drei junge Mädels, Studentinnen, die Flugblätter und Kartenmaterial im Kurierdienst besorgten und dabei erwischt wurden.Was soll ich nun mit ihnen machen? Werden die scharfen Maßstäbe angelegt, dann werden sie erschossen.Wenn es geht, will ich sie herausziehen.

[…]

An Ehefrau und Kinder Warschau, 29.August 1944

Liebe Annemie, liebe Kinder –

[…] Herr Cieciora kam vor einer Woche noch einmal zu mir in großer Not: Sie müssen mich retten! Aber wie? Ich habe mein Bestes getan. Ob er durchkommt? Zu mir nehmen konnte ich ihn nicht. Er kam gerade vom Barrikadenbau. Die Polen müssen unter dem Feuer ihrer eigenen Leute Schanzarbeiten in den Straßen machen. Er wohnte in einem Stadtteil, der von uns befreit wurde. Da steht kein Stein auf dem anderen. Er hatte fast nichts anzuziehen. Er tat mir so leid, aber was konnte ich machen? Trotzdem mache ich mir heute Vorwürfe.

 

An die Ehefrau Warschau, 13. September 1944

Meine liebe Annemie –

[…] Vorläufig vertraue ich meine Gefühle meinem Tagebuch an. […] Was die Aufzeichnungen in meinem Tagbuch betreffen,wegen der kritischen Lage, in die ich zu kommen fürchte, ist aus meiner damaligen seelischen und körperlichen Depression zu erklären. Ich war körperlich sehr herunter in den ersten Tagen [des Warschauer Aufstandes; Anm. d. Hrsg.] und sah alles ziemlich schwarz. Ich stand auch zu sehr unter den andern Eindrücken, die ich hier nicht näher schildern will. Mir war das eine nicht denkbar, und deswegen litt ich darunter, daß man mit unschuldigen Menschen, die ihre Pflicht ihrem Vaterlande gegenüber tun, so verfahren kann, oder daß der größte Teil unserer Leute ohne Gefühl für anderer Menschen Schicksal und Leid sein kann. Einzelheiten später. Das alles wirkt auf mich niederschmetternd und bedrückte mich wie damals, als ich zum ersten Male im Oktober [19]39 diese Eindrücke hatte. Ich hatte immer das Gefühl, ja, das kann nicht gut gehen, das muß die Strafe Gottes herabziehen auf uns. […]

 

An die Ehefrau Macierzysz, 10.Oktober 1944

Meine liebe Annemie –

[…] Das Sterben der Alten kann einen in jetziger Zeit nicht rühren. Und doch, als gestern so ein alter Mann mit so einem guten, treuen Großvatergesicht mich um Hilfe anflehte, wie hat mich das gerührt. Als er einen Teller Suppe bekam,war er überglücklich. Und als er gar ein Paar ordentliche Stiefel anziehen durfte, da hätte er mir am liebsten die Füße geküßt.Von all seinen Angehörigen hatte er niemand mehr. Kein Mensch kümmerte sich um ihn.Wenn es einem im Alter mal so gehen sollte, das ist doch grausam. […]

 

An Ehefrau und Kinder Warschau, 1. Dezember 1944

Meine Lieben daheim –

das Warten auf Briefe gewöhne ich mir allmählich ab.Anspruch auf schnelle, zuverlässige Zustellung gibt’s nicht mehr.Will es der Zufall doch, dann ist man um so erfreuter und dankbarer. Ach, was müssen sich die Leute heute noch alles abgewöhnen: Ein Urlauber kam eben von Köln zurück. Er hatte wegen Bombenschaden einige Tage Urlaub. Aus seinem Bericht konnte ich ersehen, wie es im rheinischen Gebiet zugeht. Die Menschen werden allmählich ganz stumpf und teilnahmslos. Sie erhoffen nichts mehr und glauben an keine noch so schönen Versprechungen. Aber der Krieg geht weiter, es muß so sein.Warum, darf man nicht fragen. […]

In der langen Zeit des Fernseins wird die schönste Erinnerung blasser. Und es ist doch gar nicht so lange her, daß wir uns sahen. Wie ertragen das die Menschen, die jahrelang in der Gefangenschaft schmachten oder sonstwie auseinandergerissen sind. Es wird wohl jedem so gehen, der eine Familie oder einen geliebten Menschen hat. Das ist der feste Halt, aber auch die Zuflucht in der Zeit und in den Verhältnissen, die den eigenen Wert zweifelhaft erscheinen lassen. […]

  

Wilm Hosenfeld

»Ich versuche jeden zu retten«

Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Thomas Vogel ca. 980 Seiten mit zahlreichen Abbildungen

Gebunden mit Schutzumschlag und Leseband

ISBN 3-421-05776-1