Startseite, hier
Teil 1
(Seiten 16-22)
Der große Ruck
Die NS-Führer konnten Juristen, Berufsdiplomaten und Generalstabsoffiziere nur
schwer ertragen. Doch zum eigenen Vorteil ließen sie ihnen Zeit zur partiellen
Anpassung. Dazu gehörten die in den folgenden Kapiteln immer wieder zu nennenden
Beamten der Reichsbank, des Reichsfinanz- und des Reichswirtschaftsministeriums
- gewiefte Männer, die ihre fachlich-politischen Erfahrungen noch im Kaiserreich
oder als Nachwuchskräfte in den Anfangsjahren der Republik gesammelt und im
Ersten Weltkrieg vielfach als Soldaten gekämpft hatten. Die Verschiedenartigkeit
und Variationsbreite der Lebensgeschichten lassen sich für sämtliche
Fachministerien nachweisen, für die meisten Universitätsinstitute wie für die
privat oder (halb-)staatlich organisierten Braintrusts in den
Wirtschaftsforschungsinstituten, wissenschaftlichen Gesellschaften,
Zeitungsredaktionen oder für die volkswirtschaftlichen Abteilungen großer
Banken.
Die Beamten der Abteilung III des Reichswirtschaftsministeriums beuteten Europa
1939 bis 1945 unter Führung des Ministerialdirigenten Gustav Schlotterer mit
kaum vorstellbarem Rigorismus aus. Die Abteilung war 1920 gegründet worden, um
den Versailler Vertrag zu erfüllen. Als wehrlose Adressaten französischer,
belgischer und britischer Forderungen lernten die damals jungen Beamten das
Einmaleins des Unterwerfens, Ausplünderns und Erpressens. Später drehten sie ihr
passiv erworbenes Know-how gegen die Erfinder, reicherten es mit deutscher
Verwaltungsintelligenz gründlich an und verstanden ihre tausendfachen
Handreichungen für das Gelingen der Raubzüge als Kompensation für vorangegangene
Demütigungen.
Die Nürnberger Gesetze wurden im Herbst 1935 auf dem Reichsparteitag im
Hoppla-hopp-Verfahren proklamiert, aber nicht etwa im Reichsgesetzblatt
verkündet. Erst nachdem hervorragende Verwaltungsjuristen in den folgenden
Wochen die Ideen vom Blutschutz und vom "Ausmendeln" angeblicher Rassenmerkmale
in bürokratisch praktikable Normen verwandelt hatten, erschien die Erste
Verordnung zum Reichsbürgergesetz mit den Festlegungen, wer Volljude, Halbjude
oder Geltungsjude sei, wer in Mischehe oder privilegierter Mischehe lebe. Als
Grundlage für viele Hunderttausend Einzelfallentscheidungen nahmen die Juristen
nicht irgendwelche erbbiologischen, ewig strittigen Messungen, wie sie sich die
Rassenforscher mit akademischer Gründlichkeit ausgedacht hatten, sondern die
unkompliziert feststellbare, vielfach dokumentierte Religionszugehörigkeit der
vier Großeltern. Das ermöglichte das "automatische Verfahren" des Aussortierens.
Ähnliches lässt sich für die "Judenbuße" von 1938 sagen, die Göring im
antisemitischen Furor auf eine Milliarde Reichsmark festgesetzt hatte. Erst das
Finanzministerium gestaltete sie zur Vermögensabgabe von 20 Prozent aus,
streckte die Bezahlung über vier Termine im Laufe eines Jahrs und trieb
schließlich deutlich mehr Geld ein, als Göring gefordert hatte.
Erst infolge solcher korrigierender Feinarbeiten konnten die antisemitischen
Sondermaßnahmen, die im Rückblick Vorstufen zum Mord an den europäischen Juden
bildeten, die notwendige Wirksamkeit entfalten. In diesem Sinne kontrollierte
der Rechnungshof des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg die Enteignung der
Juden von Belgrad und die Verwaltung der beiden Abschiebelager für
niederländische Juden ebenso(16) wie - im Auftrag des Reichsfinanzministers -
die (mangelhafte) Effizienz der Ghettoverwaltung in Lodz-Litzmannstadt. In
Warschau beauftragte die Wirtschaftsverwaltung das Reichskuratorium für
Wirtschaftlichkeit (heute: Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft)
mit einer betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung für das Ghetto. Die in
umfänglichen Revisionsberichten niedergelegten Ergebnisse sprachen gegen die
Existenz solcher gefängnisähnlichen, aber völlig unwirtschaftlichen "jüdischen
Wohnbezirke".(17)
Auf solche Weise fanden die expressionistisch-massenwirksamen, nicht selten
improvisierten Aktionen der nationalsozialistischen Bewegung ihr Widerlager in
einer routinierten Bürokratie. Bei aller Bereitschaft, der nationalen Sache zu
dienen, gaben die Beamten keines ihrer hergebrachten Steuerungs- und
Kontrollinstrumente auf. Der Rechnungshof und die Zivilgerichte arbeiteten
weiter; die Federführung, das Mitzeichnungs- und Anhörungsrecht, der
mehrgliedrige Verwaltungsaufbau, all das funktionierte mit beachtlicher
Effizienz. Die Gauleiter, die das Unbürokratische und die Volksnähe wollten,
arbeiteten sich an Finanzbeamten ab, die auf den Buchstaben der
Reichshaushaltsordnung bestanden. Das erzeugte Reibung, Ärger, Streit, vor allem
jedoch das sachkundige Austarieren sonst halsbrecherischer politischer oder
militärischer Manöver. Die polykratische Organisationsstruktur des NS-Staates
führte eben nicht - wie oft behauptet - ins Chaos. Im Gegenteil. Aus der
fortwährenden Möglichkeit, Interessengegensätze auszutragen und die Frage nach
dem besten Weg zu stellen, erklärt sich die freilich stets prekäre Stärke des
Regimes: So ließen sich (radikalere) Alternativen entwickeln, administrative
Pleiten vermeiden und eine hohe Praktikabilität der nach oft ideologisierten
Vorgaben beschlossenen Maßnahmen erreichen; so entstand das schließlich
mörderische Gemisch aus politischem Voluntarismus und funktionaler Rationalität.
Das Zusammenspiel zwischen Experten, Politikern und Bevölkerungsmehrheit fand
seine Basis auch in der Bereitschaft der Regierung Hitler, lang erwünschte
Reformgesetze zu verwirklichen, die im Interessenstreit der Republik stecken
geblieben waren. Tatendurstig warf die nationalsozialistische Verwaltung vieles
über Bord, das lange schon als unnütz und vorgestrig galt. So erfüllte sie 1941
eine Forderung von Jacob Grimm, der die deutsche Schrift 1854 als "unförmlich
und das auge beleidigend" bezeichnet hatte,(18) und schaffte per "Schriftbefehl"
die Sütterlin wie die Fraktur zugunsten der lateinischen Normalschrift ab.
Artikel 155 der Weimarer Verfassung legte fest, dass die feudale, in
Nordostdeutschland noch weit verbreitete, den modernen Kapitalismus hemmende
Eigentumsform der Fideikommisse aufzulösen sei. Jedoch war die Republik nicht im
Stande die - schon im Paulskirchenparlament 1849 geforderte - Verfassungsnorm
durchzusetzen. Das entsprechende Reichsgesetz trägt die Unterschrift "6. Juli
1938, Berchtesgaden, Adolf Hitler".
Die NS-Führung vermittelte einen ersten Vorgeschmack auf die Volksmotorisierung,
sie führte den bis dahin fast unbekannten Begriff Urlaub ein, verdoppelte die
Zahl der freien Tage und begann, den heute vertrauten Massentourismus zu
entwickeln. Der in Berlin zuständige Gauwart der Deutschen Arbeitsfront warb
dafür mit aller Energie: "Wir wollen 1938 in immer stärkerem Maße alle die
Volksgenossen erfassen, die auch heute noch glauben, eine Urlaubsfahrt sei
nichts für den Arbeiter. Diese Zaghaftigkeit muss endlich überwunden werden."
Eine Reise von 14 Tagen innerhalb Deutschlands kostete komplett zwischen 40 und
80 Reichsmark.(19)
Von Anfang an förderte der NS-Staat die Familien, stellte Unverheiratete wie
Kinderlose schlechter und schützte die Bauern vor den Unwägbarkeiten des
Weltmarkts und des Wetters. Die Grundlagen der EU-Agrarordnung, das
Ehegattensplitting, die Straßenverkehrsordnung, die obligatorische
Haftpflichtversicherung für Autos, das Kindergeld, die Steuerklassen oder auch
die Grundlagen des Naturschutzes stammen aus jenen Jahren.
Nationalsozialistische Sozialpolitiker entwickelten die Konturen des seit 1957
in der Bundesrepublik selbstverständlichen Rentenkonzepts, in dem alt und arm
nicht länger gleichbedeutend sein sollten, in dem vielmehr "die Lebenshaltung
der Arbeitsveteranen nicht allzu stark von der der arbeitenden Volksgenossen
abstechen" dürfe.(20)
Da viele NSDAP-Führer aus Verhältnissen stammten, in denen sie selbst mit dem
Gerichtsvollzieher Bekanntschaft gemacht hatten, sorgten sie sich schon in den
ersten Regierungswochen darum, die - zumal in der Krisenzeit - für die Mehrheit
der damaligen Deutschen bedrohlichen Plagen des Pfändens und der
Wohnungsexmittierung zu lindern. Zu den ersten NS-Gesetzen gehörten solche, mit
denen die Rechte der Gläubiger zugunsten der Schuldner beschränkt wurden. Sie
sollten der "Verelendung des Volkes" entgegenwirken. Das 1933 ergangene "Gesetz
zur Bereinigung alter Schulden" erklärte schon erwirkte Rechtstitel zum
Beitreiben von Schulden hunderttausendfach für ungültig. Das "Gesetz zur
Verhütung des Missbrauchs von Vollstreckungsmöglichkeiten" von Ende 1934
richtete sich gegen die "fast unbeschränkte Gläubigerfreiheit" der
Vergangenheit.(21) Insgesamt erlaubten die Reformen, und das kennzeichnet die
nationalsozialistische Herrschaftsweise insgesamt, dem einzelnen
Gerichtsvollzieher erhebliche eigenverantwortliche und fallbezogene
Entscheidungsfreiheit.(22)
Das Zentralorgan der Gerichtsvollzieher (GV), die Deutsche
Gerichtsvollzieher-Zeitung, schlug sofort einen neuen Ton an: "Ein sozial
empfindender GV wird es nicht vermögen, die Ärmsten seiner Volksgenossen dem
völligen Elend preiszugeben, ihnen mit ihrer letzten Habe zugleich das Vertrauen
zu einem schützenden Staat und die Liebe zu einem Vaterland zu nehmen, in dem
auch sie sich berechtigt glaubten, wenigstens auskömmlich leben zu dürfen." Im
"wahren Volksstaat" hatte selbst der Gerichtsvollzieher "ein echt soziales
Empfinden" zu entwickeln, "das Härten auf jeden Fall vermeidet". Er sollte in
der Nazizeit "weder Mühe noch eventuell eigenen Nachteil scheuen, um dem
sozialen Gedanken gerecht werden zu können". Schließlich erfülle er "bei der
engen Verflochtenheit des sozialen und nationalen Gedankens" immer auch eine
völkische Pflicht.
Dementsprechend hatte Hitler ("unser Volkskanzler") früh die Maxime ausgegeben:
"Deutschland wird dann am größten sein, wenn seine ärmsten seine treuesten
Bürger sind."(23) Göring sekundierte: "Der Hauseigentümer, der unbarmherzig und
skrupellos arme Volksgenossen um Nichtigkeiten willen obdachlos macht, hat den
Schutz des Staates in diesem seinem Treiben verwirkt." Das gelte auch dann, wenn
er bei seinem Verstoß gegen die "Grundgesetze der Volksgemeinschaft" den "Schein
eines Gesetzesparagraphen" auf seiner Seite habe.(24) Selbstverständlich blieben
die Gerichtsvollzieher aufgefordert, die "böswilligen Schuldner", gelegentlich
auch als "Schädlinge des deutschen Volkes" bezeichnet, "mit aller Schärfe zu
treffen".(25)
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs durfte bei Einberufenen und deren Familien
nicht mehr gepfändet werden: "Sämtliche Verfahren zum Zwecke der
Zwangsversteigerung von Gegenständen des unbeweglichen Vermögens waren ohne
Rücksicht darauf, ob die Zwangsversteigerung vor oder nach dem In-Kraft-Treten
der Verordnung (vom 1. September 1939) angeordnet war, kraft Gesetzes
eingestellt bzw. aufgeschoben." Ebenso verbesserte die NS-Regierung den
Mieterschutz für die Einberufenen. Auch wenn später wieder härter verfahren
wurde, so blieb der Schuldnerschutz doch zentrale Aufgabe jedes einzelnen
Gerichtsvollziehers, um auf diese Weise "zum Siege unseres schwer um seine
Existenz kämpfenden Volkes sein gewichtig Teil beizutragen".(26)
Auf derselben Linie lag die Lohnpfändungsverordnung vom 30. Oktober 1940, die
den Schutz der Deutschen vor der Zwangsvollstreckung weiter verbesserte. Sie
stellte einen Teil des Lohns für Überstunden pfändungsfrei, außerdem
Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Kinderbeihilfen und Versehrtenrenten. Sie legte
hohe, erstmals auf den Netto- statt auf den Bruttolohn bezogene pfändungsfreie
Grundbeträge pro Person und Familienmitglied fest. Im Sinne eines höheren Maßes
an Gleichheit zwischen den Deutschen annullierte das Gesetz jenes aus
frühbürgerlichen Zeiten überkommene Privileg, das Beamte und Geistliche vor
Pfändungen in besonderer Weise geschützt hatte.(27) Es waren solche Gesetze, die
den nationalen Sozialismus populär machten und in denen auch Konturen der
späteren Bundesrepublik Deutschland durchscheinen.
__________________________________
Anmerkungen:
(16) Zu Belgrad siehe S. 399, Anm. 591; die Überprüfung der Lager Westerbork und
Vught durch den RH, BA R 2/30666.
(17) Aly/Heim, Vordenker, S.300-330, 383 u. passim.
(18) Grimm, Wörterbuch, Bd. 1, S. LIII.
(19) Dt. Arbeitsfront/NS-Gemeinschaft "Kraft durch Freude", Gau Berlin: Dein
Urlaub 1938, Berlin [1938>; Hitler, Rede vom 10.12.1940, S.343.
(20) DAF/AWI, Kriegsfinanzierung über die Altersversorgung? (Nov. 1939), NA
T178/15, Aufn. 650-673, hier: 668.
(21) Hansen, Rechtsgestaltung.
(22) Gedanken zur Neugestaltung.
(23) Ranetsberger, Gerichtsvollzieher.
(24) Fall Köppen.
(25) Deutsches Vollstreckungswesen; Kundrus, Kriegerfrauen, S.316ff.
(26) Ziehe, Zwangsvollstreckungsrecht.
(27) Bissinger (Hg.), Du, S.26; Dt. Gerichtsvollzieher-Zeitung, 60(1940),
S.173f.; Sebode, Regelung.
Teil 2
(Seiten 139-141)
Unbürokratische Soforthilfe
Während die Leute im Osten noch von einem Tausch-
und Kauf-Eldorado träumten, bekamen die deutschen Zivilisten in den
nordwestlichen Städten des Reichs die britische Luftüberlegenheit täglich
deutlicher zu spüren. In der Innenpolitik gewann die schnelle Hilfe für die
Bombengeschädigten binnen weniger Wochen erhebliches Gewicht. Rückblickend
brüstete sich Hamburgs Gauleiter, Karl Kaufmann, er sei im September 1941 "nach
einem schweren Luftangriff an den Führer herangetreten mit der Bitte, die Juden
evakuieren zu lassen, um zu ermöglichen, dass wenigstens zu einem gewissen Teil
den Bombengeschädigten wieder eine Wohnung zugewiesen werden könnte".
Nicht zuletzt unter dem Eindruck solcher Argumente entschloss sich Hitler im
Herbst 1941, die deutschen Juden schon während des Krieges zu deportieren und
nicht erst - wie bis dahin beabsichtigt - nach dem Sieg. In den Worten
Kaufmanns: "Der Führer hat unverzüglich meiner Anregung entsprochen und die
entsprechenden Befehle zum Abtransport der Juden erteilt."(377) Auf der
Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 erwähnte Reinhard Heydrich im Hinblick auf
besonders vordringliche Deportationen die "Wohnungsfrage und sonstige
sozial-politische Notwendigkeiten" ausdrücklich.
Am 4. November 1941 stellte der Oberfinanzpräsident von Köln fest, in seinem
Bezirk habe "die Aussiedlung der Juden am 21. Oktober begonnen", und zwar
"zwecks Freimachung von Wohnungen für Fliegergeschädigte in den Städten Köln und
Trier". Die Aktion werde "nach und nach weitergeführt".(378) Tatsächlich bildete
der Wohnort ein wichtiges Kriterium für die Abfolge der im Oktober 1941
beginnenden Großdeportationen deutscher Juden. Abtransportiert wurden zuerst
diejenigen, die in den vom Luftkrieg hauptsächlich heimgesuchten nord- und
westdeutschen Städten lebten. So wurden im Oktober 8000 Juden aus Berlin, Köln,
Frankfurt a.M., Hamburg und Düsseldorf in das Ghetto Lodz (Litzmannstadt)
verschleppt. Zehn Tage später folgte die zweite Welle, die abermals und
hauptsächlich die Juden aus den bombengeschädigten und -bedrohten Städten
erfasste - insgesamt 13000 Menschen aus Bremen, Hamburg, Berlin, Bielefeld,
Münster, Hannover, Düsseldorf, Köln, Kassel und Frankfurt a.M. Sie wurden nach
Riga, Kowno und Minsk transportiert.(379)
Unmittelbar nach den ersten Deportationen aus Köln verfügte der
Oberfinanzpräsident, dass nicht allein der Wohnraum, sondern auch "der Hausrat
der ausgesiedelten Juden (...) in erster Linie den Fliegergeschädigten zugute
kommen" sollte.(380) Der Oberfinanzpräsident von Westfalen, der im stark
bombardierten Münster saß, verlangte von seinen Beamten ebenfalls, darauf zu
achten, "dass die Sachen, insbesondere Textilien und Wohnungseinrichtungen in
die richtigen Hände, wie der Bombengeschädigten, der Jungverheirateten, der
Kriegshinterbliebenen usw. kommen" würden.(381) Auf ausdrücklichen Wunsch des im
Nebenamt als Berliner Gauleiter tätigen Joseph Goebbels horteten die kommunalen
Ämter der Reichshauptstadt das Inventar der Deportierten "zur Ausstattung
bombengeschädigter Volksgenossen und als Reserve für etwa später eintretende
Schäden".(382)
Nachdem der Reichsfinanzminister Anfang November 1941 noch den sofortigen,
bestmöglichen Verkauf der "Judenvermögen" angeordnet, die Luftkriegsprobleme nur
gestreift und im Übrigen auf schnelle Zusatzeinnahmen spekuliert hatte, änderte
sich das im Sommer 1942. Von nun an galt generell, dass "bei der Verwertung der
Wohnungseinrichtungen" deportierter Juden "Fliegergeschädigte bevorzugt zu
berücksichtigen sind". Die Oberbürgermeister wurden aufgefordert, den
enteigneten Hausrat für alle Eventualitäten einzulagern. Zuvor mussten sie den
Taxwert an den Reichsfiskus abführen.(383) Neben den Bombengeschädigten mühten
sich die verschiedensten Institutionen um Anteile an der Beute: Das städtische
Waisenhaus Köln kaufte für 1860,50 Reichsmark das Mobiliar aus dem jüdischen
Kinderheim, das Diakonissenheim, das St.-Marien-Hospital, die Musikhochschule
oder die Volksbücherei waren mit von der Partie. Privatleute erwarben je nach
Schichtzugehörigkeit mal Rilkes Gedichte, die Partitur von Mozarts Requiem oder
schlicht ein Paar Schuhe, einen Schulranzen oder Bettwäsche.(384)
(Seiten 148-151)
Die Möbelbeschaffer hielten engen Kontakt mit denjenigen Dienststellen, in denen
die Abschiebung der Juden vorbereitet wurde. Dabei mussten die Männer der
Sicherheitspolizei die ungeduldig wartenden Akteure des Möbelraubs gelegentlich
zügeln, um die zur Deportation vorgesehenen Juden nicht zu beunruhigen. Ende
1943 beschwerte sich der Leiter der Dienststelle Westen, der SD in Lüttich
verhafte kaum mehr Juden, und meinte: "Da aufgrund der letzten großen
Bombenschäden im Reich die Anforderungen an meine Dienststelle wesentlich erhöht
worden sind, bitte ich zu erwägen, evtl. baldmöglichst die Judenaktion in
Lüttich weiterzuführen, damit eine Erfassung der Judenmöbel und Abtransport ins
Reich erfolgen kann." Als ein halbes Jahr später, am 13. Juni 1944, immer noch
nichts geschehen war, wandte sich der für das Wohl der Volksgenossen zuständige
Mann abermals an die Sicherheitspolizei. "Im Interesse der deutschen
Bombengeschädigten" forderte er, die 60 jüdischen Familien, die damals noch in
Lüttich lebten, schleunigst zu verhaften.(400)
Zur Möbelaktion gehörte auch die Beschlagnahme von großen Containern mit dem
Umzugsgut von emigrierten Juden, so genannte Liftvans, kurz: Lifts, die wegen
des Kriegsbeginns in den Häfen von Antwerpen, Rotterdam oder Marseille hängen
geblieben waren. Nach einem schweren Bombenangriff auf Köln im Sommer 1942
überließ das Reichsfinanzministerium, das die Güter als Staatseigentum
betrachtete, der Stadtverwaltung von Köln 1000 Lifts aus Antwerpen.(401)
Parallel dazu trafen solche Lifts aus Rotterdam im Kölner Hafen ein; von dort
aus wurden Münster, Mannheim und Lübeck in gleicher Weise beliefert; wo sie
nicht sofort gebraucht wurden, legte man im Benehmen mit dem
Reichsfinanzministerium eine "Katastrophenreserve" an.(402) Vorzugsweise nach
Berlin gelangten diejenigen Lifts, die nach dem Seitenwechsel Italiens in Triest
und Genua in deutsche Hände fielen.(403) Die im Hamburger Freihafen
eingelagerten Lifts wurden bereits im Frühjahr 1941 teils versteigert und zum
erheblichen Teil von der Sozialverwaltung aufgekauft. Diese deponierte die
Vorräte in verschiedenen Speichern im gesamten Stadtgebiet als "eine gute
Reserve für Katastrophenfälle".(404) Ähnlich wurde in ganz Deutschland mit
Auswanderergut verfahren, das noch bei Speditionen eingelagert war.(405)
Offizielle Adressaten all dieser Hilfsgüter waren die zuständigen
Oberfinanzpräsidenten. Ihnen oblag es, das von Staats wegen Geraubte zu
reprivatisieren. Das geschah nach dem immer gleichen Muster: Die
Gemeindeverwaltungen entschädigten die Ausgebombten mit Geld und Bezugsscheinen
für den verlorenen Hausrat, für Kleidung usw., und zwar auf Reichskosten. Zudem
erhielten die Antragsteller einen speziellen Ausweis für Bombengeschädigte, der
ihnen bevorzugte Einkaufsmöglichkeiten sicherte. So ausgestattet, konnten sie
das Ersatzmobiliar kaufen oder ersteigern. Der Ertrag floss bei dieser
Gelegenheit an die Reichskasse zurück. Haushaltstechnisch gesehen veranstaltete
die Finanzverwaltung ein Nullsummenspiel zu Lasten der enteigneten - und zu
einem erheblichen Teil ermordeten - Vorbesitzer. Folgt man einer Anzeige, die
sich in der Oldenburger Staatszeitung vom 24. Juli 1943 unter der Rubrik
Amtliches findet, dann spielte sich das so ab:
"Verkauf von Porzellan, Emaillewaren, Betten und Wäsche gegen Barzahlung in
Hatterwüsting, Gastwirt Strangmann, am Sonntag, dem 25. Juli 1943, um 16 Uhr für
Bombengeschädigte, soweit noch nicht berücksichtigt, um 16.30 für Kinderreiche
und Neuvermählte und um 17 Uhr für jedermann. Der Bürgermeister: Schnitker." Aus
solcherlei Verkäufen erzielte die Stadt Oldenburg zwischen 1942 und 1944 genau
466617,39 Reichsmark. Der Stadtkämmerer überwies den Ertrag laufend an die
Reichskasse - zu verbuchen als Allgemeine Verwaltungseinnahme.(406)
Da die meisten Partien im Nordwesten aus den aufgelösten Wohnungen der
niederländischen Juden stammten, sprach man in Oldenburg allgemein von
"Hollandmöbeln". Bis zum Sommer 1944 transportierten die deutschen
Katastrophenhelfer unter Mitarbeit der Amsterdamer Spedition A. Puls das
Inventar von 29000 Wohnungen in das Reich. Die M-Aktion begann in den
Niederlanden mit einer förmlichen Anordnung der vom Sicherheitsdienst
errichteten Zentralstelle für jüdische Auswanderung, die am 20. März 1942 im
Joodsche Weekblad abgedruckt werden musste: "Jeder Jude, der in einer eigenen,
gemieteten oder anderweitig zur Verfügung gestellten Wohnung lebt, muss für die
Entfernung von Mobiliar, Gegenständen, die zur Einrichtung der Wohnung gehören,
Hausrat oder anderem Besitz gemäß Par. 3 der Anordnung des Generalkommissars für
Sicherheitswesen vom 15. September 1941 beim Jüdischen Rat von Amsterdam
schriftlich Genehmigung beantragen." Wer sich nicht daran hielt, wurde mit
strengen Strafen bedroht.(407)
Im Ruhrgebiet trafen im Sommer 1943 aus Prag Möbelladungen ein, in Köln
"gebrauchte Kleider und Wäsche" aus derselben Quelle. In einem reich bebilderten
Bericht brüstete sich der Leiter der Treuhandstelle Prag, wie unter seiner
Aufsicht der Inhalt der Wohnungen Tausender Deportierter sorgfältig sortiert,
repariert und eingelagert worden sei. Der Berichterstatter prägte das Motto
"Jüdisches Vermögen wird Volksgut". Ende Februar 1943 stapelten sich in Prager
Möbelspeichern, nach Kategorien geordnet, die örtlichen Restbestände der
Arisierung: 4817 Schlafzimmer, 3907 Küchen, 18267 Schränke, 25640 Sessel,
1321741 Haus- und Küchengeräte, 778195 Bücher, 34568 Paar Schuhe, 1264999 Stück
Wäsche und Kleidung und viele Dinge mehr. Die Güter stellten in den Augen der
TreuhandMänner eine gerade im Krieg "unersetzliche Reserve" dar. (408)
Die deutschen Juden durften pro Person 50 Kilogramm zur Deportation mitnehmen.
Natürlich wählten sie die guten und warmen Sachen aus. In vielen Fällen blieben
die Koffer und Kisten an Ort und Stelle, sie wurden nur scheinbar verladen. So
ließ man den Packwagen des Zuges, der die Königsberger Juden am 24. Juni 1942 zu
der Vernichtungsstation Mali Trostinez bei Minsk beförderte, einfach auf dem
Bahnhof stehen. Ähnliches spielte sich am 22. April 1942 in Düsseldorf ab, wo
das sortierte Gepäck - Wärmflaschen, Wollsachen, Strümpfe, Mäntel, Anzüge,
Schuhe - fünf Tage später an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt übergeben
wurde. Einen Teil der dort aus dem Gepäck der Deportierten geraubten Sachen -
Verbandmull und Binden, Seifenpulver, feste und flüssige Seife, Rasierklingen,
Rasiercreme, Shampoo, Haarwasser, Trockenspiritus, Streichhölzer,
Kölnischwasser, Salben, Schuhcreme, Nähzeug, Zahnbürsten, Tabak und Kautabak,
Zigaretten, Zigarren, Tee, Kaffee, Kakao, Süßigkeiten, Wurst, Apfelsinen und
Zitronen sowie andere Lebensmittel - erhielten die folgenden Adressaten: die
Kreisstelle des Deutschen Roten Kreuzes, ein Soldatenheim, ein Reservelazarett
sowie die Truppen-Erfrischungs- und -Verpflegungsstelle im Düsseldorfer
Hauptbahnhof. (409)
_________________________________
Anmerkungen:
(Seiten 139-141)
(377) Kaufmann rückblickend an Göring, 4.9.1942, Bajohr, "Gefühlsduseleien",
S.13.
(378) OFP Köln (Kühne) an OLGPräs. Köln, 4.11.1941, Rummel/Rath, Reich, S.356ff.
(379) Longerich, Politik, S.705f.
(380) OFP Köln and OLGPräs., 4.11.1941, Rummel/Rath, Reich, S.189.
(381) OFP Westfalen an FÄ über die beginnende Abschiebung der Juden, 8.12.1941,
Dreßen, Betrifft, S.78ff.; Beer, Kriegsalltag, S.157.
(382) Schwerin v.K. an Rosenberg, 14.3.1942, Woitkowski, Schwerin v.K., S.51 (LArch
Berlin A Rep. 093-03/54611).
(383) RFM (Maaß) an die OFP, 14.8.1942, Rummel/Rath, Reich, S.423.
(384) Dreßen, Betrifft, S.149ff.
(Seiten 148-151)
(400) URO (Hg.), M-Aktion, S.140, 148, 156.
(401) PK der NSDAP, 5.6.1942; OFP Köln (Kühne) an RFM (Gündel), 9.6.1942, BA R
2/31096, Bl. 41ff.
(402) Rüther, Köln, S.93ff.
(403) A.J. van der Leeuw, Die Behandlung des in den Niederlanden lagernden
Umzugsgutes ausgewanderter Juden, 20.7.1959, LArch Berlin B Rep. 039-01/321; URO
(Hg.), M-Aktion, S.4.
(404) Ebbinghaus u.a. (Hg.), Heilen, S.68.
(405 Rummel/Rath, Reich, S.193.
(406) Offenes Geheimnis, S.125f.
(407) Aalders, Geraubt, S.360.
(408) TB der Treuhandstelle Prag (ca. März 1943), LArch Berlin B Rep.
039-01/314; Eidesstattliche Erklärung v. Ludvik Engel, Praha d. 4.10.1963, LArch
Berlin B Rep. 039-01/313, Bl. 162f.; zum Ruhrgebiet Blank, Ersatzbeschaffung; zu
Köln Dreßen, Betrifft, S.201; Adler, Mensch, S.597f.
(409) Zu Königsberg Aly, Tunnel, S.137; zu Düsseldorf Pätzold/Schwarz,
Auschwitz, S.129f.; Zimmermann, Deportation, S.134f.
Teil 3
(Seiten
339 - 342)
Virtuelle Kriegsschulden
Aus der rein spekulativen Technik der Kriegsfinanzierung folgte der Zwang zum
Siegfrieden. Die Regierung Hitler konnte sich keinen Kompromiss leisten, sie
musste die Niederlage ausschließen. Deshalb setzte sie vom ersten Kriegstag an
auf die "ungeheuren Kapazitäten, die Deutschland in den von ihm besetzten
Gebieten - also ohne Rückgriff auf das eigene Volksvermögen - noch zusätzlich
auswerten" könne. Bereits nach dem Sieg über Frankreich hieß es selbstgewiss: In
dem "Machtbereich vom Nordkap bis zur Biskaya" stünden dem hoch verschuldeten
Deutschland nun "die Reichtümer fast ganz Europas zur Verfügung".(950)
Auf solche Weise ließen sich die Deutschen mit den Mitteln opulenter
Staatsfürsorge ruhig und nicht selten bei Laune halten. Vor dem Hintergrund
solcher Stimmungsgewinne erklären sich die Steuergeschenke an die deutschen
Arbeiter im Herbst 1940, die Rentenerhöhung von 1941 und der Verzicht auf
breitenwirksame direkte Kriegsteuern in den folgenden Jahren. Erst recht mit dem
Einmarsch in die Sowjetunion gewann jene Lesart die Oberhand, nach der die
innerdeutschen Aufrüstungs- und Kriegsschulden nur virtuell bestünden. In seiner
für das allgemeine Publikum abgefassten Schrift "Was geschieht mit unserem
Geld?" beruhigte Staatssekretär Fritz Reinhardt 1942 die Öffentlichkeit. Er wies
auf "die Neuordnung der Dinge im Osten" hin und sprach von den Früchten des
Endsieges. Den Kriegsschulden stünde, so gaukelte er dem Publikum vor, "auf der
Aktivseite ein Zugang an Werten und Ertragsquellen gegenüber, die ein Mehrfaches
der gestiegenen Reichsschuld betragen" würden.(951)
Die führenden deutschen Ökonomen sahen das ebenso. In seinem Schlusswort auf der
Arbeitstagung zur Kriegsfinanzierung im Herbst 1941 warf Rudolf Stucken die
rhetorischen Fragen in den Raum: "Sind wirklich nach dem Krieg die Schulden noch
ein Problem? Werden nicht auch irgendwelche Feinde, die wirklich lieferungsfähig
sind, uns dann in wesentlichen Punkten durch Reparationen und dergl.
unterstützen?"(952) (Selbstverständlich tat Stucken nach 1945 so, als habe er in
steter Gegnerschaft zur NS-Finanzpolitik gestanden.) Der Finanzwissenschaftler
Hero Moeller wies auf den "Verkauf von hinzugewonnenen frei gewordenen Böden und
sonstigem unentgeltlich anfallenden neuen Staatseigentum" hin, das eine
"beträchtliche Entlastung schaffen" könne.(953)
Sein Kollege Bernhard Benning sprach sich im Sommer 1942 ebenfalls dafür aus,
die "Reprivatisierung von Reichsbesitz in den eingegliederten Ostgebieten" und
die "laufenden Reichseinnahmen aus Schleusengewinnen¬ auf Grund der Einfuhr
verbilligter Waren aus den besetzten Ostgebieten u.Ä." als "zusätzliche
Tilgungsquellen einzuschalten".(954) In dem Vortrag, der dem hier zitierten
Aufsatz zugrunde lag, wurde er unter dem Gesichtspunkt "Rückgriff auf
ausländische Volkswirtschaften" noch deutlicher: "Dazu kommen die bedeutenden
Sachwertkomplexe, die durch die Besetzung feindlicher Länder - insbesondere im
ehemaligen Polen und in Russland - in das Eigentum des Reiches übergegangen
sind."(955)
Unter Schleusengewinn verstand man die Differenz zwischen dem Einkaufspreis etwa
von russischem Getreide und dem Verkaufspreis in Deutschland. "Wenn
beispielsweise der innerrussische Verkaufspreis je Tonne Roggen", so erklärte
Reinhardt die Sache vor den obersten Raubtechnokraten des Reiches, "gegenwärtig
80 Reichsmark betragen würde, so würde je Tonne Roggen der Unterschied zwischen
180 Reichsmark deutschem Verkaufspreis und 80 Reichsmark innerrussischem
Verkaufspreis zuzüglich Beförderungskosten und Lagerkosten als Schleusengewinn
in die Kasse des Reiches fließen." Laut Protokoll waren Reinhardts Zuhörer aus
den Führungsetagen von Wehrmacht, Ernährungs-, Wirtschafts- und Ostministerium
"einstimmig der Meinung, dass so verfahren werden muss".(956)
Anders als Heinrich Himmler (als Siedlungskommissar des Reiches) wünschte,
beharrte der Staatssekretär im Innenministerium mit Erfolg darauf, das erbeutete
Feindvermögen an die Reichskasse abzuliefern und nicht etwa für die Ansiedlung
Volksdeutscher zu reservieren. Schließlich seien die fraglichen "Gebiete in den
Feldzügen dieses Krieges von dem ganzen Volke mit dem Schwert erobert worden (
..., so) dass die Früchte dieser Siege daher auch dem ganzen deutschen Volke
zugute kommen müssen".(957) Dem schloss sich das Finanzministerium gerne an. In
den Augen der dort tätigen Beamten hatte "das Reich durch die Besetzung der
feindlichen Gebiete das Eigentum an diesen Vermögensmassen originär
erworben".(958) Mit ähnlichen Argumenten ließen sie gemeinsam mit den Kollegen
von der Vierjahresplanbehörde die durchaus volksnahen Begehrlichkeiten örtlicher
Funktionsträger im besetzten Polen ins Leere laufen. Für die Haushälter in
Berlin stand fest, "dass der Gegenwert der eroberten polnischen Vermögen dem
Deutschen Reiche gehört".(959)
Aus wirtschaftlichem Realismus betonten die Ministerialbeamten stets, dem Reich
stünden nicht etwa die erbeuteten Wirtschaftsgüter selbst auf Dauer zu, sondern
allein der Gegenwert. Es ging also von Anfang an um die (Re-)Privatisierung des
Gewonnenen. Ein Mann wie Reinhardt dachte bereits an den Verkauf von
Volksaktien, um das Ersparte der Durchschnittsdeutschen nach dem Endsieg rasch
zu binden und den Konsumgütermarkt vor einem unkontrollierbaren Kaufansturm zu
schützen. So gesehen erschienen die Rüstungsausgaben nicht als unproduktiv,
vielmehr sei ihnen "das gewaltige Sachvermögen gegenüberzustellen, das durch das
deutsche Schwert gewonnen" werde. Deshalb solle "ein Teil des neuen
Reichsbesitzes den Sparern zur Verfügung gestellt werden - Beispiel: Anteile an
Industriewerken oder Gruben im besetzten Ostraum".(960)
(Seiten 359-362)
Als das Dritte Reich endlich von den alliierten Armeen niedergeworfen wurde und
in Trümmern versank, gab Fritz Reinhardt am 16. Januar 1945 noch einen letzten
Ausblick auf die fast verlorene Zukunft. Die Regierung wende gegenwärtig mehr
als eine Milliarde Reichsmark jährlich für Kinder- und Ausbildungsbeihilfen auf,
erklärte er seinem Publikum. Der Betrag war für damalige Begriffe
außerordentlich hoch. "Der nächste Schritt auf dem Weg zum
Familienlastenausgleich", so fuhr er fort, werde "bald nach Beendigung des
Krieges darin bestehen, dass Schulgeld, Lehrgebühren und Lernmittelkosten für
alle Schularten und alle Kinder, auch für den Besuch von Fachschulen und
Hochschulen, beseitigt werden". Auf solche Weise werde dann ein "starkes,
politisch, wirtschaftlich und finanziell gesundes Großdeutschland als erster
Sozialstaat der Erde" entstehen.(993)
In den Methoden unterschiedlich, doch nicht selten zu Lasten Dritter, zählt die
soziale Aufwärtsmobilisierung der Massen zum Kernbestand der politischen Ideen
des 20. Jahrhunderts. Der nationale Sozialismus der NSDAP gehört in dieses
Kontinuum. Man mag die rassistisch formulierte Gleichheitsidee als pervertiert
bezeichnen. Doch erstens zeichnete die Geringschätzung der individuellen
Freiheit und das Missachten der persönlichen Integrität viele Formen des
Egalitarismus aus. Zweitens vertrat die NS-Bewegung das nicht nur in Deutschland
wirkungsvolle Konzept, die soziale mit der nationalen Homogenisierung zu
verknüpfen. So erklärt sich, aus welcher innen- und gesellschaftspolitischen
Konstellation Hitlers Volksstaat seine verbrecherische Energie bezog.
Eben weil die Deutschen nicht ein zweites Mal aus purem Patriotismus in den
Krieg ziehen wollten, weil sie sich im Herbst 1939 skeptisch zeigten, kam es
politisch darauf an, sie am wirtschaftlichen Ertrag der verschiedenen Raubzüge
sofort und spürbar zu beteiligen. Die Einheit von Sozial- und Rassenpolitik, das
im zeitgenössischen Vergleich beispiellose sozialpolitische Appeasement,
festigte das Massenvertrauen immer wieder neu. Deshalb konnte die politische
Spekulationsblase Drittes Reich so lange Bestand haben; deshalb konnten die
Akteure das Glück und das Leben so vieler Menschen zerstören.
Die mannigfaltigen, auf den vorangegangenen Seiten beschriebenen Formen
öffentlicher Habgier und nationalsozialer Bereicherung ermöglichten es, die
Masse des Volkes mit einer Mischung aus milder Steuerpolitik, guter Versorgung
und punktuellem Terror an den Rändern der Gesellschaft wenigstens ruhig zu
stellen. Das stimmungspolitische Optimum, das die NS-Führer anstrebten, bildete
allerdings die gute Laune der Deutschen. Von ihr pflegte Goebbels zu sagen, sie
"ist ein Kriegsartikel, unter Umständen kann sie nicht nur kriegswichtig,
sondern kriegsentscheidend sein".(994) Die materielle Stimulierung einer
gehobenen deutschen Massenlaune auf Kosten anderer bildete das wesentliche -
stets kurzfristig verstandene - Ziel des Regierens.
So betrachtet, verwandelte die NS-Führung die Deutschen mehrheitlich weder in
Fanatiker noch in überzeugte Herrenmenschen. Vielmehr gelang es ihr, sie zu
Nutznießern und Nutznießerchen zu machen. Nicht wenige steigerten sich in eine
Goldgräberstimmung, in das Gefühl von einer nahen Zukunft, in der das Geld auf
der Straße liegen würde. Wie sich der Staat im Großen in eine gewaltige
Raubmaschinerie transformierte, wandelten sich gewöhnliche Leute in
Vorteilsnehmer und passiv Bestochene. Aus Soldaten wurden bewaffnete
Butterfahrer.(995)
Einfache Männer brachten Dinge in ihren Besitz, von denen sie wenige Jahre zuvor
kaum gewusst hatten, dass es sie gab. Sie beteiligten sich an einem Großkampf,
der angeblich im Sinne einer deutschen Zukunft geführt wurde, in der Milch und
Honig fließen würden. Das war für sich genommen kein überzeugendes Motiv. Doch
eröffnete der Krieg selbst einen Vorgeschmack darauf, wie angenehm das Leben
danach sein, welche Genüsse es dann bieten würde - frei nach dem Motto: Wie wir
heute erobern, werden wir morgen leben. Daraus folgte ein schattenhaft
schlechtes Gewissen, das unbestimmte Gefühl, man könne nur siegen oder
untergehen. Ende 1943 verallgemeinerte der SD die Kommentare von Deutschen, die,
wie Millionen andere, ihr Geld noch immer regelmäßig zur Sparkasse trugen:
"Gewinnen wir den Krieg, so werden wir das Geld einmal gut gebrauchen können
(...) Verlieren wir den Krieg, dann ist es gleich, ob wir nun gespart oder Waren
und Grundstücke erworben haben, dann ist alles verloren."(996)
Im April 1945 kehrte der britische Offizier Julius Posener in seine deutsche
Heimat zurück. Er kam vom Niederrhein in das zerstörte Köln. Zuvor war er an der
italienischen Front gewesen, "wo im harten Winter 1944/45 die Neapolitaner zu
Hunderten in den Straßen verhungert waren", die Menschen "bis in höhere
Schichten der Gesellschaft hinein, so abgerissen, bleich und hoffnungslos". In
Frankreich hatte der Krieg nicht ganz so verheerend gewirkt. "Aber was war das
gegen die Ketten netter, weiß gekleideter Mädels" in Deutschland, "die vor den
Trümmern der Stadt ihren Abendspaziergang machten".
Die Zerstörung der Städte hatte Posener, der im Zivilberuf Bauingenieur war,
erwartet, auch wenn das Ausmaß seine Vorstellungen übertraf. Der Anblick der
Menschen überraschte ihn: "Die Leute entsprachen der Zerstörung nicht. Sie sahen
gut aus, rosig, munter, gepflegt und recht gut gekleidet. Ein ökonomisches
System, das von Millionen fremder Hände und mit dem Raube des ganzen Erdteiles
bis zum Ende aufrechterhalten wurde, zeigte hier seine Ergebnisse."(997)
Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will,
der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.
_____________________________________________
Anmerkungen:(Seiten 339 - 342)
(950) Bark, Kriegsfinanzierung, S.23, 28.
(951) Reinhardt, Geld, S.38.
(952) Akademie für Dt. Recht, AG Geld und Kredit, 17./18.10.1941, Janssen,
Nationalökonomie, S.493.
(953) Möller, Grenzprobleme, S.116.
(954) Benning, Expansion, S.227f. (Er revidierte damit ausdrücklich seine bis
dahin gewahrte Ablehnung einer solchen auf den militärischen Sieg spekulierenden
Schuldentilgung.)
(955) Benning, Aufbringung der Kriegskosten, Kapitalfreisetzung und
Geldüberfluss (MS, 9.6.1942), S.1, 36, BA R 8136/3809.
(956) VJP, Vortrag Reinhardt vor Backe, Riecke, Schlotterer, Meyer und Hanneken
[1942>, BA R 2/30675.
(957) RMI (Stuckart), Einziehung reichsfeindlichen Vermögens in Slowenien,
11.9.1941, NG-4764; RFM, 30.7.1942, NG-4919.
(958) RFM (Schlüter) an RMI, 9.4.1942, NG-4766.
(959) VJP (Körner) an RFM, 17.6.1941, NG-4912.
(960) Arbeitstagung der Gauwirtschaftsberater (Braun, Kurhessen), 19.2.1942, BA
R 2/31681.(Seiten 359-362)
(993) Inflation völlig ausgeschlossen. Reinhardt sprach über wichtige
Finanzierungsprobleme, Der Angriff, 17.1.1945.
(994) Goebbels-Tgb., II/1, S.373, 439 (17.9. u. 7.9.1941) und an vielen anderen
Stellen.
(995) Den Begriff verdanke ich einer brieflichen Anmerkung von Michael Naumann
zu meinem Artikel "Hitlers zufriedene Räuber", Die Zeit, 8.5.2003.
(996) SD-Bericht zu Inlandsfragen, 13.12.1943, BA R 2/24250; Kundrus,
Kriegerfrauen, S.314-321.
(997) Posener, Deutschland, S.18.