ANTONY BEEVOR, Berlin 1945. Das Ende. Bertelsmann, München. 512 S.
Der Horror der letzten TageDer britische Autor Antony Beevor hat für sein neues Buch "Berlin - The Downfall 1945" in russischen Archiven ungeahnte Details gefundenVon Thomas Kielinger - auch über die Vergewaltigungen der Roten Armee beim Vormarsch auf Deutschland seit Januar 1945 29-5-2002 Was können wir noch lernen, was wir nicht wussten, über das Herz der Dunkelheit, die Kriegsmonate Januar bis Mai 1945, die Klimax des Entsetzens? Was haben die Kilometer an Literatur ausgelassen, dass wir ergriffen werden könnten mit neuer Wucht, als hätten wir alles noch nie gelesen, durchdacht, durchlitten? Wer will uns noch einmal durch die Katharsis schleusen, den Abgrund aus Furcht und Mitleid? Würden wir nicht die Hände hochheben wie Äneas, der Dido bat, ihm die Nacherzählung vom Untergang Trojas zu erlassen? "Heiße mich nicht, oh Königin, den ungeheuren Schmerz erneuern", lässt Vergil seinen Helden flehen. Umsonst. Nichts wird uns erspart mit einem neuen Buch, das in diesen Wochen im Sturm die britischen Bestsellerlisten erobert hat. Antony Beevor heißt der Autor, die Deutschen kennen ihn mit seinem auch in der Übersetzung erfolgreichen, 1998 erschienenen "Stalingrad", des bis dato besten Berichts über diesen Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Beevor hat sich gleichsam vom Sog seiner damaligen Erzählung in das neue Unterfangen ziehen lassen, wie er jetzt schreibt, symbolisiert in einem Schwur, den ein russischer Oberst deutschen Kriegsgefangenen zuschrie, als er des Trümmerfelds von Stalingrad ansichtig wurde: "Genau so wird Berlin einst aussehen!" Aber wo "Stalingrad" ein einzelnes Ereignis unter dem Mikroskop erfasste und gleichsam "zerlegte", kommt "Berlin - The Downfall 1945" wie ein epischer Schock daher. Der breite Strom der Geschichte rückt in den Vordergrund, Stabführung hat die russische Perspektive, darin gespiegelt die Zuckungen des deutschen totalitären Wahns in seiner letzten Phase. Freilich, die Erschütterung bei der Lektüre hat einen anderen Grund. Warum sich um die Wahrheit herumdrücken? "Berlin - The Downfall 1945" enthält neben einer Vielzahl neuer militärischer Details aus der Schreckenskulisse des Krieges eine in solchen Einzelheiten bisher noch nie recherchierte Chronik der Vergewaltigungsgräuel, wie sie den Weg der Roten Armee seit dem Einfall in Ostpreußen im Januar 1945 bis nach Berlin säumten. Es ist dieser rote Faden, der wie ein immer wieder hochschreckendes Leitmotiv die Begegnung mit Beevors neuem Buch zu einem ebenso bedrückenden wie unvergesslichen Erlebnis macht. Dazu trägt auch der Stil der Erzählung selbst bei, diese meisterhafte Mischung aus narrativer Finesse und Unbestechlichkeit gegenüber den Fakten. In beiden Kategorien erleben wir einen Autor auf der Höhe seiner Kunst. Beevor, in Sandhurst ausgebildet, kann es in punkto militärischer Details mit jedem aufnehmen. Und als Erzähler hatte er sich mit vier Romanen gleichsam warm gelaufen, noch vor seinem ersten historischen Werk über den Spanischen Bürgerkrieg. Die Unbestechlichkeit schließlich ist Teil britischer Distanzkultur, die angesichts der Thematik dieses Buches entscheidende Bedeutung entfaltet. Der Vormarsch der Roten Armee seit Januar 1945 war zugleich ein Vormarsch endloser Vergewaltigungen, meist in Gruppen vollführt - "eines der größten Kriegsverbrechen der Neuzeit", wie britische Rezensenten von Beevors Buch unbeschönigend schreiben. Die 430 Seiten dieser Erzählung übersteigen alles, was wir über dieses noch immer halbdunkle Kapitel der Kriegsgeschichte bisher in Erfahrung bringen konnten,- aus Solschenizyn, aus den Memoiren von Lew Kopelew oder Christan Graf v. Krockow ("Die Stunde der Frauen") oder aus vielen anderen Tagebuchaufzeichnungen der Zeit. Beevor aber ist der Erste, der unseres Wissens nach diesem Thema den gebührenden Platz im Gesamt des sich zuziehenden Verhängnisses gibt. Seine Erzählung gewinnt damit die Qualität eines "Simplizissimus im Zweiten Weltkrieg". Es regiert der totale Schrecken - auch der totale Wahnsinn: Das Gewoge der Fronten, das Gauklerspiel der Militärs, Heroismus neben unsäglicher Grausamkeit, von zarten Lichtstrahlen der Humanität gelegentlich durchbrochen. Kurzum: Ein Panorama, so Furcht erregend erhellt, als habe man es so noch nie zuvor gesehen. Zweifellos wird dieses Buch, wenn es im Herbst auf Deutsch bei Bertelsmann herauskommt, zum Magneten der Frankfurter Buchmesse werden. Was macht seine Glaubwürdigkeit aus? In einem Satz: die russischen Archive. Mit "Stalingrad" hatte sich Antony Beevor als bedeutsamer Forscher etabliert - vor allem in Russland. Das kam ihm für sein neues Projekt zu Hilfe. Es öffneten sich ihm weitere Archivstollen in Moskau und Podolsk, die noch kein Forscherauge vor ihm gesehen hatte: Ablagen im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte, im staatlichen Militärarchiv, im Moskauer Staatsarchiv für Literatur und Künste, im Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums, mit Reichtümern an Belegen von Soldatenbriefen, von Berichten des Geheimdienstes NKDW oder der Gegenaufklärung Smersch, von vertraulichen Mitteilungen von Geheimdienstchef Berija an Stalin und vielem anderen mehr. Den größten Fund machte Beevor mit den Tagebuchnotizen des Romanciers und Essayisten Wassili Grossman, der für ihn zu einem wichtigen Kronzeugen der geschilderten Gräuel wird, auch zu einem unverzichtbaren Begleiter durch den Kriegsalltag aus sowjetischer Perspektive. Weitere Authentizität gewinnt er für seine Erzählung durch die Befragung von über 50 Überlebenden vor allem auf russischer und deutscher Seite, Militärs wie Zivilisten, die ihm für den Gang der Geschichte neue, teils beklemmende, teils anrührende Details liefern. Eine Zeugin beispielsweise hat er in Moskau gesprochen, die etwa unseren Kenntnisstand über die Auffindung von Hitlers und Eva Brauns Leichen endlich aus dem Nebel von Vermutungen ins gesicherte Feld der Fakten übertragen kann. Jelena Rschevskaja, Dolmetscherin bei der Gegenaufklärung, war anwesend, als die Smersch-Leute am 5. Mai endlich die verkohlten Überreste des Führers und seiner Gefährtin auf dem Gelände der Reichskanzlei aufstöberten. Es fiel dann wenige Tage später dieser Frau als Erster zu, Hitlers Gebiss aufzubewahren, "in einem mit roter Seide ausgeschlagenen Kästchen, wie man es zum Verwahren von billigem Schmuck gerne verwendet". Da Stalin das Auffinden Hitlers selbst Marschall Schukow gegenüber verheimlicht sehen wollte (der erst 1965 erfuhr, wie sehr der Generalissimus ihn in dieser Frage hinters Licht geführt hatte), fand sich die Rschevskaja am 8. Mai mit ihrem Geheimnis belastet in der Runde einer spontanen Siegesfeier wieder, "wo sie mit der einen Hand den Soldaten einschenkte und mit der anderen ihr rotes Kästchen fest umklammert hielt". Wann immer die Tathergänge der Vergewaltigungen nach vorn drängen, erstirbt der Erzähler wie in klinischer Korrektheit. Nur an einer Stelle kann sich Beevor nicht enthalten zu urteilen. Er behandelt ein von ihm aufgefundenes Memorandum des stellvertretenden politischen Leiters bei der Ersten Weißrussischen Front, Tsygankow, an den sowjetischen Jugendverband Komsomol; sogar Stalins Vertrauter Malenkow hat von diesem Bericht Kenntnis erhalten. Darin wird schonungslos von reihenhaften Gruppenvergehen an russischen, ukrainischen und polnischen Frauen berichtet, die im ostpreußischen Bunslau in Kriegsgefangenschaft gelebt hatten und für ihre "Befreiung" mit Schändung bezahlen mussten. Die Propaganda hatte behauptet, kriegsverschleppte Frauen, die nicht durch Selbstmord aus dem Leben geschieden waren, hätten sich offenbar "an die Deutschen verkauft" und seien daher so gut wie vogelfrei. Beevor merkt an, dass allein durch solche und viele ähnliche Vorkommnisse "jeder Versuch der Sowjetunion unterminiert wurde, die Vergehen der Roten Armee als Racheakte gegen Deutsche zu rechtfertigen." Das konnte auch deshalb kaum aufrechterhalten werden, weil - wie der Autor immer wieder dokumentiert - einfach alle den Vergewaltigungsorgien anheim fielen - selbst Insassinnen von gerade befreiten Konzentrationslagern oder Jüdinnen, die sich in Berlin, nach langer Zeit des Versteckens, den "Befreiern" zu erkennen gaben. Im Muster der Übergriffe sieht der Historiker vier Entwicklungsstufen. Die erste, beim Einfall in Ostpreußen, war von geradezu animalischer Violenz geprägt. Der einfache Rotarmist, selbst Opfer menschenunwürdiger Behandlung durch seine Vorgesetzten, war vielfach herabgesunken auf vor-zivilisatorische Existenz. Verlogen flößten ihm die ideologischen Kommissare obendrein die de-sexua- lisierende Mär der reinen Hingabe an den großen Führer Stalin ein. Das sprang nun in sein Gegenteil um, suchte und fand Kompensation in Orgien grausamer Enthemmung. Gleichzeitig brach sich ein besonders aktueller Affekt Bahn, als man entdeckte, wie wohlhabend, sauber und fortschrittlich die Deutschen in ihren eigenen Landstrichen doch lebten. Dass eine Gesellschaft auf - verglichen mit Russland - so hohem Niveau es für nötig befunden hatte, die Sowjetunion auch noch zu überfallen, "steigerte die Rage auf alles Deutsche ins Unermessliche". Die zweite Stufe sieht Beevor in Berlin erreicht. Inzwischen war die erste animalische Rohheit bedient und der Rotarmist wurde wählerischer - in der Frau sah er jetzt so etwas wie die sexuelle Beute in einem gewonnenen Krieg. Auf der dritten Stufe erhöhte sich die Not der potenziell Gefährdeten, weil jetzt vielfach Hungersnot und die Sorgen um die Kinder sie trieben, "einen Pakt fürs Essen zu schließen". Auf der letzten Stufe schließlich suchten viele Verzweifelte durch freiwillige Hingabe nach individueller Protektion vor weiteren Gruppenvergewaltigungen; der Sowjetsoldat, oft ein Offizier, nahm sich eine "Besatzungsfrau" als Austausch für seine vorher unterhaltene "Kampagnenfrau" - Russinnen aus dem das Militär begleitenden Personal. Jedenfalls belegt dieses Buch mit zwingender Deutlichkeit, dass der Versuch der Parteioberen, die Hasslinie Ilja Ehrenburgs abzubrechen und in einem "Prawda"-Artikel vom 14. April 1945 auf zukünftige bessere Beziehungen zum deutschen Volk zu setzen, viel zu spät kam und so gut wie wirkungslos blieb. Beutemachen, Alkohol und die kaum mehr aufzuholende schiere Verrohung prägten weiter das Bild, bis in den Sommer 1945. "Selten ist ein besiegtes Volk in solch geradezu epischem Maßstab missbraucht worden", schreibt Robert Winder in seiner Rezension im "New Statesman". 1,9 Millionen Frauen und Mädchen deutscher Nationalität ereilte dieses Schicksal. Gegenüber Joachim Fests vor wenigen Wochen vorgelegtem Essay-kurzem Bericht "Der Untergang - Hitler und das Ende des Dritten Reiches" kommt Beevor mit der Wucht ausholender Geschichtsschreibung daher, eine Sintflut an Fakten, wo Fest wie unter Studiobeleuchtung ausschnitthaft nur die letzten Aprilwochen 1945 nacherzählt und nachinterpretiert. Das ist beklemmend genug. Der Brite will weniger interpretieren als bloßlegen, und zwar die Konturen des Geschehens seit Beginn 1945. Diesem Schwindel erregenden Epos hält man passagenweise kaum stand. Ist es Zufall, dass sich Bücher wie dieses gerade jetzt anmelden, die in Deutschland lange verdrängte Leiderfahrung bestätigend? Hier betreten wir schwieriges Gelände. Deutschland mag einen Günter Grass hervorbringen, der es "im Krebsgang" an die versunkene Wilhelm Gustloff heranführt, an die Schreie Tausender Unschuldiger, die mit ihr zu Grunde gingen. Aber eine historiographische Erforschung des deutschen Leidensweges, unter Zuhilfenahme russischer Quellen wie in Beevors Buch - das wird wohl noch lange nicht vordringlich unsere Aufgabe sein können, so dringend jede Aufarbeitung sein mag. Zu stark stünde uns die Spur des Täters im Wege, der Taten, die gerade in der Sowjetunion von Deutschen verübt worden sind. Aber damit ist die Geschichte natürlich nicht von ihren düsteren Geheimnissen erlöst, und Russland, das heutige Russland, nicht davon entbunden, seinerseits eines Tages in den Spiegel schauen und die Dinge aufrufen zu müssen, die in seinem Namen begangen wurden. Dass ein Brite es tut, ist für alle Beteiligten vielleicht die im Augenblick "verträglichste" Lösung - obwohl man sich auch da nichts vormachen darf. Als die ersten Berichte über "Berlin - The Downfall 1945" in die britischen Medien drangen, war es niemand anderes als der russische Botschafter in London, Grigori Karasin, der sich in einem wütenden Leserbrief an den "Daily Telegraph" über die "Blasphemie" dieses Buches entrüstete, "diese Verleumdung gegenüber einem Volk, das die Welt vom Nazismus errettet hat". Vielleicht gehört zur ruhigen Verarbeitung eigener Leiden die komplementäre Besinnung: der Mut zur Wahrheit über das, was man anderen zugefügt hat. Beevors Buch wird daher vor allem für Russland zu einer brisanten Herausforderung - auf den Großen Vaterländischen Krieg durfte bisher kein Schatten fallen. Wird es eine russische Übersetzung geben? Werden die Archive, die der Brite noch hat einsehen dürfen, jetzt wieder verschlossen, oder - im Gegenteil - weiter geöffnet bleiben? Nur aus Letzterem aber kann jener "Gewinn für immer" fließen, den schon Thukydides als den Zweck wahrhaftiger Geschichtsschreibung pries. Antony Beevors Buch hat in Großbritannien längst die Bestsellerlisten erobert. In deutscher Übersetzung erscheint "Berlin - The Downfall 1945" im Herbst. Die mit Wucht ausholende Geschichtsschreibung geht über das Buch "Der Untergang - Hitler und das Ende des Dritten Reiches" von Joachim Fest weit hinaus
| "Der Chef brennt!" |
Antony Beevors spannende Schilderung über den Untergang des Deutschen Reiches
AntonyBeevor: Berlin 1945. Das Ende. C. Bertelsmann
Verlag, München 2002. 543 Seiten, 26,- [Euro].
ARNULF BARING
Der Titel täuscht. Das Werk behandelt nicht allein den
russischen Endkampf um und in Berlin, sondern das Ende des "Großdeutschen
Reiches" - und nicht nur an der Ostfront, obwohl ihr
naturgemäß breiter Raum gegeben wird, sondern auch im Westen.
Obendrein kommen Entscheidungen in den militärischen
Hauptquartieren und den Regierungszentralen der beteiligten
Großmächte zur Sprache. Daher erlebt der Leser nicht nur
Hitlers Werdegang in den letzten Monaten seines Lebens,
sondern auch Weichenstellungen bei Eisenhower, im Kreml
Stalins oder auf der Jalta-Konferenz vom Februar 1945 im
Süden der Krim.
Montag, 30.
September 2002
Im Rausch
der Rache
Kriegsgräuel 1945 Erstmals geben russische Geheimarchive preis, wie deutsche
Frauen von Rotarmisten misshandelt wurden. Es war alles noch viel schlimmer,
als bisher bekannt, schreibt der britische Historiker Antony Beevor in einem
neuen Buch.
30-5-2002 Können wir unsere Geschichte nur ganz oder gar nicht
haben? Auf eine merkwürdige Weise kreuzen sich in jüngster Zeit Vorgänge,
die den Beobachter der englischen Zeitschrift «Economist» jetzt zu der
Bemerkung veranlasste, das wiedervereinigte Deutschland verliere die Scheu
vor sich selbst und erlange sein nationales Selbstbewusstsein zurück.
Indizien dafür gibt es viele. Das forschere Agieren auf der internationalen
Bühne gehört dazu; die deutlichere Formulierung nationaler Interessen, aber
auch die etwas sentimentale Hinwendung zur preußisch-deutschen Geschichte,
die den Umzug der Hauptstadt nach Berlin begleitete. Nach einem Dutzend Jahren des prosaischen Wiederaufbaus
im Osten, der Reparatur von Telefonnetzen und Fernverkehrstraßen, der
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und des Geldtransfers beginnt die Berliner
Republik über sich und ihren Platz in der Geschichte nachzudenken. Das ist
nach einem halben Jahrhundert der inneren Erkaltung, der flüchtigen Präsenz,
der eher kontingenten Beziehung zur eigenen Herkunft ein bemerkenswerter,
wenngleich verständlicher Vorgang. Die Wunden scheinen zu heilen. Aber
können sie das wahrhaftig? Zum Wiederempfinden dieser eigenen Geschichte gehört auch
die nicht larmoyante, nicht von den Narben der Kriegsheimkehrerjahre
verunstaltete, heute fast überraschende Entdeckung der Opferrolle in jenen
schrecklichsten Jahren deutscher Geschichte, die uns vor allem als Täter
zeichneten: die literarische Annäherung von Günter Grass an das dunkle
Kapitel der Vertreibung, die öffentliche Problematisierung der
Benesch-Dekrete oder die epische Darstellung der Massenvergewaltigungen
durch die Rote Armee. Dass diese uns der britische Autor Antony Beevor gibt,
ändert nichts an ihrer Bedeutung für die deutsche Selbsterkenntnis. Und wir
vernehmen den Rezensenten Robert Winder im «New Statesman» wie die Stimme
des wahrhaft Fremden: Selten sei «ein besiegtes Volk in solch geradezu
epischem Maßstab missbraucht worden», wie die Deutschen im Osten in den
ersten Monaten des Jahres 1945. Es ist wie das langsame Erwachen aus einer langen Phase
kollektiver Amnesie, ein zögerndes Abtasten von Geschwüren, die man eines
Morgens erschreckt an sich entdeckt. Der eigene Leib tut plötzlich wieder
weh. Es ist nicht das triumphierende «Wir auch», das den unsäglichen
Versuchen der Vergangenheit anhaftete, das große Morden auch noch
aufzurechnen. Es ist die eher beklemmende Erkenntnis: so also tut das weh,
was wir den anderen Menschen angetan haben. Diese Form der Rückbesinnung scheint nichts Reaktionäres,
auch gar nichts Leichtfertiges in sich zu bergen. Das könnte ein Trugschluss
gewesen sein. Es war wohl naiv zu glauben, dass uns unsere Geschichte nur in
einer reinen, geläuterten, mithin ganz aufgehellten Form besuchen kommen
würde. Was uns Jürgen Möllemann, was uns womöglich gar auch Martin Walser da
beschert, ist eben die Begegnung mit der ganzen deutschen Geschichte, auch
mit ihren hässlichen, unappetitlichen Zügen. Aber das hat auch sein Gutes.
Denn es hilft zu unterscheiden, hilft streng die Dinge zu sortieren. Es gibt
eben keine einfache Rückkehr in die Disney-Version unserer Geschichte, kein
harmlos-freundliches sich Wiedereinrichten hinter den Fassaden aufgebauter
Kirchen und Preußen-Schlösser. Normalisierung heißt tägliche Versuchung, tägliche
Provokation, täglich wache Gelassenheit. Jetzt, da wir die beschützende
Werkstatt der mentalen Nachkriegsordnung verlassen müssen, wird sich zeigen,
ob wir den Fährnissen und Zumutungen einer freiheitlichen Gesellschaft
gewachsen sind. Ob unsere intellektuelle Integrität und moralische
Gangsicherheit ausreicht, um mit unserer Vergangenheit weder herumzuspielen,
noch mit ihr frivol und zynisch zu hantieren. Erst wenn das Leiden an der
Geschichte zur Erkenntnis geworden ist, wenn wir das Wissen um das
Geschehene tragen und ertragen können und die Erinnerung über den letzten
Lebenden der Erlebensgeneration hinaus fortlebt, dann sind wir wirklich in
den Strom unserer eigenen Geschichte zurückgekehrt. Wir können diese
Geschichte nur ganz haben. Im Guten wie im Bösen. Ein Drittes gibt es
nicht.
Samstag, 02. November 2002 Berlin, 14:31 Uhr
Wie 1945 die Welt
unterging
Der Militärhistoriker Antony Beevor zeigt den blutigen Mahlstrom, der das
mörderische Dritte Reich verschlang
Von Johann Michael Möller
Dies ist keine erbauliche Lektüre. Auch, wer sich für hartgesotten hält,
wird Antony Beevors Standardwerk (denn das ist es schon jetzt) über die
letzten Tage des Dritten Reiches gelegentlich aus der Hand legen müssen. "So
wird Berlin eines Tages auch ausselhen!", sagte ein russischer Offizier
angesichts der rauchenden Trümmer von Stalingrad. Beevor schildert, wie die
Rote Armee an den Deutschen Rache nahm, schildert Vergewaltigungsexzesse,
das Leid der Zivilbevölkerung und die Gewissenlosigkeit der Nazis, denen die
eigenen "Volksgenossen" letzlich egal waren.
Hannah Arendt, als sie nach dem Krieg das zerstörte und besetzte Deutschland
besuchte, registrierte tiefst befremdet eine auffällig renitente
Geschäftsmäßigkeit, die neben den täglichen Anstrengungen des schieren
Überlebens keinen Platz für die Gefühle des Entsetzens und der Trauer zu
kennen schien. Ein anderer Beobachter - Nachfahre einer alten jüdischen
Gelehrtenfamilie - sah wenige Jahre später bei seiner Rückkehr aus der
englischen Emigration Deutschland in einem Meer von Selbstmitleid versinken.
Die geschlagene und geteilte Nation, so sein Befund, habe vor allem Trauer
über das eigene Schicksal empfunden. Dies vernimmt sich heute wie ein
Bericht aus fernen Tagen. Spätestens in den sechziger Jahren begann eine
immense und in jeder Hinsicht schuldbewusste Auseinandersetzung mit der
deutschen Tätergeschichte.
Doch haftete dieser "Aufarbeitung" etwas merkwürdig Akademisches an, so als
ob von einer Vergangenheit die Rede sei, die man zwar verabscheute, mit der
man aber nicht mehr das geringste zu schaffen hatte. Bei aller Betonung des
Verantwortungskontinuums war es doch eine ferne Geschichte, von der man
durch einen tiefen Generationenriss getrennt zu sein schien. Doch auch dies
hat sich durch die Wiedervereinigung wohl geändert. Die düstersten
Schauplätze dieser jüngsten Geschichte sind wieder begehbar geworden, sind
hinter der großen geistigen Demarkationslinie der Nachkriegsjahre wieder
aufgetaucht und auf die Distanz eines Sonntagnachmittagsausflugs näher
gerückt. Buchenwald und Sachsenhausen, aber auch die Seelower Höhen im
Oderbruch, Zossen und Halbe sind keine Namen aus dem Geschichtsbuch mehr,
sondern Orte in der nächsten Umgebung der Hauptstadt Berlin.
Vielleicht ist es diese wiedergewonnene, ganz räumliche Verbindung mit
unserer jüngsten Geschichte, die noch einmal nach einer neuen, viel
intimeren Betrachtung verlangt. Denn die im Grenzraum um Berlin verborgenen
Orte, aber auch die Kriegsbrachen im Herzen der Stadt waren der Schauplatz
eines Weltuntergangs, wie ihn die Geschichte kaum je erlebt hat.
Diesem Inferno hat Antony Beevor ein großes und in seinem Detailreichtum
beeindruckendes Buch gewidmet. Es ist das in bester Tradition britischer
Militärgeschichte geschriebene Epos eines unvorstellbaren Ringens, dessen
moralische Unabänderlichkeit jeden Moment durchschimmert und doch den Blick
freigibt auf die ungezählten Tragödien auf allen Seiten. Das dürre Wort vom
Untergang des Dritten Reiches füllt Beevor mit tausendfachem Leben, oder
besser: mit tausendfachem Sterben. Es dient ihm nicht als bloßes Material
für welthistorische Betrachtungen. Es ist sein eigentlicher Gegenstand, den
er kaum einmal zu grundsätzlichen Überlegungen oder gar eleganten
Reflexionen missbraucht. Wo er es dennoch versucht, wirkt es eher
unbeholfen. So bleibt seine krude Kriegspathologie der
Massenvergewaltigungen weit hinter der objektiven Schärfe seiner
Schilderungen zurück. Dass der Umstand, sich in den zerbombten Ruinen noch
nicht einmal mehr waschen zu können, den Ekel der geschändeten Frauen ins
Unerträglichste steigerte, ist ein Detail, das keiner Erläuterung mehr
bedarf.
Beevors Buch überzeugt genau an solchen Stellen. Dort etwa, wo er vom
Erstaunen eines der sowjetischen Divisionskommandeure berichtet, der
deutschen Kindern inmitten einer brennenden Stadt begegnet und plötzlich
erkennen muss, "dass sie genauso weinen wie unsere Kinder". Das war die
andere Wahrheit zu Ilja Ehrenburgs Terrorpropaganda gegen die "deutschen
Bestien". Beevor kommt hier der Zugang zu sowjetischen Archiven und
Augenzeugen zugute, die lange hinter dem Schleier der offiziellen Moskauer
Geschichtsschreibung des großen vaterländischen Krieges verborgen geblieben
waren. Er nutzt sie immer wieder zu überraschenden Brechungen. Auch dort, wo
die Urteile längst gefallen sind. Bei Strausberg kurz vor den Toren von
Berlin entdeckt eine junge norwegische Krankenschwester ihren Geliebten von
der Waffen-SS unter den frisch Verwundeten. "Sie umschlang ihn, bettete
seinen Kopf in ihren Schoß und blieb bei ihm, bis er an seinen schweren
Kopfverletzungen starb." Auch das eine Facette jener gefürchteten Einheiten,
die immer wieder durch fanatische Grausamkeit von sich reden gemacht hatten
und in den Tagen des Untergangs von Berlin zur Hälfte aus europäischen
Freiwilligen bestand.
Man möchte mehr über die einzelnen Schicksale erfahren, die Beevor da
schemenhaften im Pulverdampf der größten Materialschlacht der Geschichte
nachzeichnet. Die Tragik Wlassows und seiner Freiwilligenarmee bleibt
genauso blass, wie die Figur des legendären Generals Bersarin, der "bei den
Berlinern bald genauso beliebt war wie bei seinen eigenen Leuten". Der
Schriftsteller Lew Kopelew, in dem sich das russische Gewissen gegen die
Gewaltorgien in den letzten Kriegwochen am frühesten regte, huscht genauso
vage durch die Zeilen, wie eine der Kronzeuginnen des Untergangs, Ursula von
Kardorff, deren Tagebuchaufzeichnungen vor wenigen Jahren erschienen sind.
Überhaupt verraten manche etwas ungelenken Hinweise, wie der auf den
umstrittenen "Heidedichter" Hermann Löns, dass dem Autor der ideen- und
sozialgeschichtliche Blick eher fremd ist. Beevor, der in Sandhurst zum
Offizier ausgebildet wurde, ist vor allem Militärhistoriker. Dort liegt
seine eigentliche Meisterschaft. Sein Buch über den Untergang von Berlin
1945 ist vor allem eine grandiose Schilderung der zusammenbrechenden
Ostfront, der Rankünen Stalins, der grotesken Wahrnehmungen der Nazi-Größen
und ihrer immer mörderischeren Befehle. Es ist das grauenhafte, das nicht
enden wollende Ende, wie Albert Speer einmal weinerlich beklagte, von dem
aus Beevor den Zivilisationsbruch der NS-Diktatur erfasst, "sein Unvermögen,
sein schwer wiegender Realitätsverlust und seine ganze Unmenschlichkeit".
Aber man wünschte sich bei der Lektüre doch gelegentlich weniger
detailgetreue Angaben über Truppenbewegungen und Kaliberweiten als vielmehr
die Sprachkraft und dramaturgische Raffinesse eines Joachim Fest. In seiner
historischen Skizze über den Untergang des Nazi-Reichs wird das gigantische
Ringen noch konsequenter auf jene wahnsinnige Gleichsetzung fokussiert, in
der Hitler sein Ende mit dem seines Volkes verband. Auf der einen Seite die
gespenstische, geradezu autistische Bunkerwelt unter der neuen Reichkanzlei,
in der ein sich mörderisches System immer schneller um sich selbst zu drehen
beginnt; auf der anderen Seite der größte Militäraufmarsch der
Kriegsgeschichte am Oderbruch - das ist der Spannungsbogen einer
historischen Tragödie, an deren Ende weit mehr verloren ging, als das, "was
allen sichtbar vor Augen liegt": die Toten, die Trümmerberge und die
Verwüstungen über den Kontinent hinweg. Beevor begnügt sich mit diesem
Wahrnehmbaren. Er wählt das Epos des Untergangs und beschreibt einen großen,
langsam mahlenden Strom, der ein Regime am Ende unter sich begräbt. Darin
liegt eine Stärke seines Buches - und zuweilen seine Schwäche.
Am 6. November wird Antony Beevors Buch in der Saarländischen
Landesvertretung in Berlin vorgestellt. Die Moderation hat Thomas Kielinger
Antony Beevor:
Berlin 1945. Das Ende.
Bertelsmann, München. 512 S., 26 E.
Mittwoch, 23. Oktober
2002 Berlin, 23:06 Uhr
Und immer wieder:
Geschichte!
Weil sich unser Verhältnis zu ihr ändert, weil sie uns verändert
Von Antony Beevor
Die Geschichte wird immer nur vom Ende her geschrieben", klagte Albert Speer
einmal voller Bitterkeit während seiner Verhöre nach dem Krieg. Er hasste
den Gedanken, dass man das Nazi-Regime nur von seinem endgültigen, grotesken
Zusammenbruch her beurteilen würde. Speer weigerte sich einfach
anzuerkennen, dass nichts so sehr die wirkliche Anlage einer Diktatur
enthüllt wie die Art ihres Endes. Aber auch heute ist dieses Thema von hoher
Relevanz, wo sich entwurzelt fühlende junge Menschen, angezogen von der
massenhaften Vernichtung gesichtsloser Feinde in Videos und elektronischen
Spielen, in Illusionen von absoluter Macht, wenn nicht Bösartigkeit
schwelgen.
Kein Land hat freilich mehr getan, den Schrecknissen seiner Vergangenheit
ins Auge zu schauen als Deutschland. Bis in die jüngste Historikergeneration
hinein wird beispielsweise die Quellenlage zu Gräueltaten der SS oder der
Wehrmacht genauestens erforscht. Gelegentlich hat so viel Engagement der
Geschichtsschreibung nicht nur gut getan; manche Themen erhielten zuweilen
eine zu einfache Schwarz-Weiß-Färbung, wo doch Geschichte nie so ordentlich
aufgeht. Im Ausland hört man oft den Vorwurf, die Deutschen drehten sich zu
sehr um sich selbst, wie selbstverloren, auch dann, wenn sie mit der
Nazi-Ära abrechnen. Doch haben gerade solche Vorwürfe - nicht selten in
Witze gekleidet - diese Introspektion, wo sie besteht, eher noch befördert.
Einmal, nach einer Vorlesung über Stalingrad, zu der man mich nach
Deutschland eingeladen hatte, kam eine junge Frau zu mir ans Podium; sie
wolle, so sagte sie, über die Schuld ihres Landes an Kriegsverbrechen in der
Sowjetunion sprechen. Ihr Vater sei Offizier in der Panzerdivision Wiener
Neustadt gewesen, habe aber später seine Rolle in der Wehrmacht zutiefst
bereut. Er sei dann auch persönlich befreundet gewesen mit dem wohl
umstrittensten "Büßer", Graf von Einsiedl. Einsiedl habe ihr, so erzählte
mir die Frau, versichert, alle in der Wehrmacht hätten von Anfang an über
die Verbrechen in der Sowjetunion gewusst. Dies musste sie mithin für wahr
annehmen - obwohl doch Einsiedl selbst in seinen Memoiren gesteht, er habe
durchaus nicht klar gesehen in dieser Frage bis zu seinem Damaskus-Erlebnis
im Herbst 1942 - also lange nach der schlimmsten Phase der Ausschreitungen
im ersten Jahr nach der Invasion der Sowjetunion.
Ich erwähne dies nur als ein Beispiel, wie leicht sich aus der Retrospektive
moralisch urteilen lässt, gerade auch dann, wenn man sich an die eigene
nationale Brust schlägt. Weitaus schwieriger - und wichtiger - scheint mir
dagegen, sich immer wieder und zuallererst Klarheit zu verschaffen über die
Mentalitäten und den Kontext der Zeit, die zu solchen Gräueln geführt haben.
Die Geschichte der letzten sechs Monate des Zweiten Weltkrieges,
kulminierend in dem furchtbaren Angriff der Roten Armee auf Berlin, ist
zugleich die Geschichte einer wachsenden Zahl von Soldaten und Zivilisten in
der Falle eines von den Nazis geschaffenen Albtraums. Hitlers Weigerung zum
Rückzug bedeutete eben auch, dass deutsche Frauen und Kinder dem russischen
Vormarsch einfach überantwortet wurden. In meinen Forschungen konnte ich
manchmal kaum unterscheiden zwischen der fast unglaublichen
Verantwortungslosigkeit der Nazis und ihrer gleichzeitig erkennbaren totalen
Inhumanität nicht zuletzt dem eigenen Volk gegenüber. Binnen zehn Wochen,
von Mitte Januar 1945 an, machten sich 8,5 Millionen Menschen aus
Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Schlesien auf die Flucht, zu Schiff,
per Bahn, auf Bauernwagen oder zu Fuß. Stalin rühmte sich dieser Vorgänge
auf der Jalta-Konferenz Churchill gegenüber, als er auf die
Bevölkerungsbewegung im Gefolge der Verschiebung der polnischen Grenze zur
Oder zu sprechen kam. Westliche Politiker hatten sich das Ausmaß der
Vertreibung nie vorstellen können - wir sprechen heute von einem
Zahlenkorridor zwischen zwölf und 16 Millionen.
Tausende ließ man zugweise in Vieh- oder Kohlewaggons zu Tode frieren oder
verhungern, ganz so wie Häftlinge aus Konzentrationslagern. Aufpasser des
Regimes wollten keine ansteckenden Krankheiten durch die Flüchtlinge
eingeschleppt sehen. In vielen Fällen war ihnen aber schon die einfachste
Fürsorge zu viel, und sie reichten die Ankömmlinge einfach an die nächste
Instanz weiter. So sah in Wahrheit die viel gerühmte Volksgenossenschaft
aus, die nationale Kameraderie.
Der Umgang mit der Vergangenheit ist heute in ein neues Stadium getreten.
Begonnen hat ein Normalisierungsprozess - die Deutschen fühlen sich beim
Gedenken an die Opfer des Nazi-Terrors endlich berechtigt, auch an die
eigenen Opfer zu erinnern, besonders unter den Zivilisten. Durch Günter
Grass' Novelle "Im Krebsgang", die Geschichte des Untergangs der "Wilhelm
Gustloff", wurde dieser Prozess sicherlich beschleunigt. Die Tatsache, dass
dieses Schiff am 30. Januar 1945, am zwölften Jahrestag von Hitlers
Machtergreifung also, sank, gibt dem Thema eine eigene Symbolkraft. Wir
müssen, so antwortete Grass sinngemäß auf die Frage, warum gerade er sich
diesem Thema zuwende, hier weiter loten, sonst würde die Rechte sich dieser
Fragen bemächtigen.
Ich möchte den Akzent ein wenig anders setzen. Natürlich ist es nur recht
und billig, dass das schreckliche Leiden der deutschen Zivilisten im Zweiten
Weltkrieg endlich die ihm gebührende Berücksichtigung findet. Und natürlich
geht es ebenso in Ordnung, dass ein demokratisches Deutschland nach so
vielen Jahren ehrlicher Auseinandersetzung mit dem Horror der Vergangenheit
endgültig freikommt vom Schatten kollektiver Schuld. Aber niemandem, erst
recht nicht der extremen Rechten, sollte es gestattet sein, das Thema des
deutschen Leids anno 1945 abzukoppeln davon, was ihm in den vier Jahren
davor vorausging und was das Bedürfnis nach Rache an den Deutschen überhaupt
erst geweckt hat. Auch ist der Begriff der "Normalisierung" von gefährlichen
Missverständnissen bedroht. Noch sind in Polen und Tschechien nicht alle
Ängste verflogen, dass der Rekurs auf die Enteignungen nach 1945 einen neuen
Druck erzeugen könnte, das Rad der Geschichte zu Gunsten der Nachkommen der
damals Enteigneten zurückzudrehen. Nicht umsonst bildet eine für alle Seiten
zufrieden stellende, klare Antwort auf dieses Problem eine der wichtigsten
Voraussetzungen für die Erweiterung der EU nach Osten.
Das vergangene Jahr führte uns aber auch vor Augen, was für ein Paradox doch
dem europäischen Ideal zu Grunde liegt. Der Aufstieg der Rechten in Holland
- immerhin ein Land, das sich auf seinen Liberalismus einiges zugute hält -,
dann der Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen, das alles weist
auf eine dramatische Abkehr von alten Übereinkünften bezüglich der
Europa-Idee hin. Anstoß gab die Welle der Migration, die durch die Öffnung
der Grenzen nach dem Fall der Mauer entstand und die bis heute für
fortgesetzte Unruhe überall in Europa sorgt. Sind beim herkömmlichen
Argument für eine engere europäische Integration womöglich Ursache und
Wirkung vertauscht worden?
Motiviert durch ein genuines "Nie wieder Krieg!", hatte vor allem die
deutsche Politik in zunehmender europäischer Vertiefung die Garantie sehen
wollen für einen dauerhaften Frieden. Vor den Risiken freilich verschloss
man die Augen: Die Rechnung wurde ohne den Nationalstaat gemacht. Wer aber
den Nationalstaat für obsolet erklärt, erreicht möglicherweise genau das
Gegenteil von dem, was er will. So irrten beispielsweise überzeugte Europäer
wie auch einige von Lionel Jospins Ministern nach ihrem Wahldebakel, wenn
sie meinten, das Phänomen Le Pen könne nur "europäisch" gelöst werden. Das
übersah geflissentlich die Ängste unter den Wählern, sei es im Blick auf
unkontrollierte Einwanderung, sei es auch nur wegen eines Gefühls
allgemeiner Machtlosigkeit. Was hat denn nationale Politik noch für eine
Bedeutung, so wird gefragt, angesichts immer mächtiger werdender ungewählter
Brüsseler Bürokraten?
Vor zwei Jahren, anlässlich eines Abendessens in Berlin, sagte mir ein
deutscher Diplomat, ihn habe an meinem Stalingrad-Buch am meisten meine
These beschäftigt, die Nazis hätten beim Überfall auf die Sowjetunion
Ursache und Wirkung vollkommen verwechselt. Wie konnte das Regime, so hatte
ich damals geschrieben, davon ausgehen, der Angriff werde dem russischen
Nationalgefühl den Todesstoß versetzen? Mein Gesprächspartner wurde noch
mehr verblüfft, als ich ihm gestand, zwar seien die Briten in ihrer
Obsession mit dem Zweiten Weltkrieg zu weit gegangen, aber der heutige,
völlig andersartige Idealismus der Deutschen mache ihnen durchaus zu
schaffen. Ganz entgeistert schließlich schaute er mich an, als ich ihm
berichtete, am führenden Universitätszentrum für Kriegsstudien in
Großbritannien studiere man inzwischen künftige Konfliktszenarien im
vereinten Europa.
Kriege zwischen Staaten, vor allem solche in Europa, gehören gnädig der
Vergangenheit an, auch weil es nie einen Anlass gegeben hat für
ausgewachsene Demokratien, gegeneinander Krieg zu führen. Von dieser
Prämisse aus wirkt der Versuch, Konflikte zu verhindern durch Amalgamierung
von Nationalstaaten, als ob Generäle den nächsten Krieg mit der Taktik des
letzten führen wollten. Es wird dabei übersehen, dass alte Ressentiments und
Eifersüchte durchaus noch am Leben sind und zu neuem Streit führen können.
Das führt uns zur Frage und zur Rolle kollektiver Identitäten. Europäische
Staaten mit starker nationaler Identität haben immer ihre
Binnenverschiedenheiten akzeptiert, einschließlich der Notwendigkeit,
Ressourcen von reicheren zu ärmeren Landesteilen zu transferieren. Das ist
weniger ausgeprägt in Ländern mit einer stärker fragmentierten Geschichte,
also etwa in Belgien, Italien oder auch Deutschland, wo interregionale
Solidarität immer wieder erkämpft werden muss, sich nicht von selbst
versteht.
So viel kann man voraussagen: Die Europäische Union, mit all ihrem Bemühen
um eine europäische Identität, wird eher noch größere Probleme bekommen auf
dem Weg, die binneneuropäischen Verschiedenheiten zu homogenisieren, als sie
einige Nationalstaaten für sich schon in der Vergangenheit hatten. Als ein
griechischer Diplomat mir unlängst auseinander setzte, die Nordstaaten der
EU müssten eine Umverteilung ihres Wohlstandes als eine Art
"Solidaritätssteuer" zu Gunsten der Südstaaten hinnehmen, damit diese
aufholen können, gab ich ihm zur Antwort, das werde zu einer ähnlichen
Situation führen wie mit der Liga Nord in Italien.
Wenden wir den Blick von der EU nach Russland: Hier spielt die Vergangenheit
eine wiederum ganz andere Rolle. Nach Jahrzehnten sowjetischer Propaganda
ist es nicht leicht für die russische Gesellschaft, ihrer Geschichte offen
ins Auge zu schauen. Es geht ja um 70 Jahre - nicht, wie im deutschen Fall,
um zwölf -, in denen Millionen von Menschen auf verbrecherische Weise um
ihre Erfüllung gebracht wurden. Der sowjetische Sieg von 1945 macht es erst
recht schwer, grundsätzlich zu überprüfen, wie der Große Patriotische Krieg
denn nun wirklich geführt wurde. Nachdem er mich wegen meines neuen Buches
"Berlin - Das Ende 1945" erst der Lüge, der Verleumdung und der Blasphemie
bezichtigt hatte, meinte der russische Botschafter in London später zu mir:
"Antony, das musst du verstehen - der vaterländische Sieg ist uns heilig."
Ich stimmte ihm zu, doch mit der Ergänzung, das immense Opfer an
menschlichem Leid habe ihn heilig gemacht. Genau das ist ja der Grund, warum
selbst antistalinistische Russen noch heute solche Probleme haben, dieses
Kapitel ihrer Geschichte aufzuarbeiten.
Russische Leser meines Buches fühlen sich nicht einmal so sehr berührt durch
die Berichte über Massenvergewaltigungen deutscher Frauen als davon, dass
sowjetische Frauen und Mädchen, zur Sklavenarbeit nach Deutschland
verschleppt, ein ähnliches Schicksal erlitten. Das Elend dieser jungen
Frauen, die inständig gehofft und gebetet hatten, von der Roten Armee
befreit zu werden, ist eingehend, mit allen schrecklichen Details, in einem
Geheimbericht an das Zentralkomitee des sowjetischen Jugendverbandes
Komsomol festgehalten worden. Es schwächt auf dramatische Weise das
traditionelle sowjetische Argument, "Exzesse" seien nur vorgekommen als
Rache für deutsche Gräueltaten.
Zum ersten Mal kam in Deutschland in den achtziger Jahren das Thema der
Massenvergewaltigungen allmählich an eine breitere Öffentlichkeit. Noch
heute wollen einige der Opfer nicht mit ihren Erlebnissen heraus, um ihre
Familien vor der dunklen Wahrheit zu schützen. Das ändert sich jetzt. Mich
hat tief bewegt, wie viele nach Großbritannien emigrierte deutsche Frauen
nach der englischen Erstveröffentlichung meines Buches auf mich zugekommen
sind. Mehrere von ihnen bekannten gerade heraus, sie hätten bisher nie
gegenüber ihren britischen Freunden oder Familien über diese Dinge sprechen
können, weil niemand geglaubt hätte, was ihnen widerfahren war.
Geschichte - unser Verhältnis zu ihr selbst ändert sich. Bislang wurde sie
geschrieben mehr unter "kollektiven" Aspekten: die Geschichte eines Landes,
einer sozialen Klasse, einer Armee und so fort. Doch etwa seit den neunziger
Jahren will eine neue Generation, weit gehend befreit von traditionellen
Gruppenloyalitäten, mehr wissen von den Erfahrungen und Erlebnissen des
Individuums schlechthin. In einer Welt, die das persönliche Risiko weit
gehend ausgeschaltet hat, findet es diese Generation fast unvorstellbar,
dass es einmal eine Vergangenheit gegeben haben soll, so gefährlich, so
unvorhersehbar, dass der Einzelne sein Schicksal fast kaum steuern konnte.
Sie fragen sich unwillkürlich, ob sie wohl selbst das alles überstanden
hätten, physisch, moralisch, ob sie beispielsweise den Mut aufgebracht
hätten, die Aufforderung, Kriegsgefangene oder Zivilisten zu erschießen, zu
verweigern.
Doch noch immer klammern sich viele Menschen, ob aus Unsicherheit oder
Frustration, an die Identität ihres Stammes oder Landes. Günter Grass hat
Recht: Unterdrücke diese Gefühle, und du verstärkst nur das Ressentiment,
das aus ihnen erwächst. Viel besser, offen und bestimmt darauf zu verweisen,
was aus ihnen werden kann, wenn man nicht aufpasst. Speer hatte Unrecht. Die
Geschichtsschreibung muss das Ende betonen, weil in ihm die wahren Folgen
grotesker Ideologien evident werden.
Aus dem Englischen von Thomas Kielinger
Von dem britischen Historiker Antony Beevor erschien soeben: "Der Untergang
Berlins 1945" (Bertelsmann, München.
512 S.,
24,90 E).
Other pages on the books by
Antony Beevor Ο Ο Ο Ο Ο Ο
Ο Ο Ο
Es ist also ein breites Panorama, das Beevor vor uns ausmalt.
Besonders verdienstvoll ist es, daß er nicht nur
Kampfhandlungen und Entschlüsse des militärischen
Spitzenpersonals erwähnt, sondern auch dem Schicksal
einfacher Leute breiten Raum gibt. Es rührt an, wie oft er
der Toten gedenkt, nicht nur unter den Soldaten - etwa auf
den Seelower Höhen oder später, besonders schrecklich, die
Massaker im Kessel von Halbe -, sondern auch unter der
Zivilbevölkerung, den Frauen, Kindern, Greisen. Beevor
spricht von 1,4 Millionen Toten in jenen Monaten. Sie
starben in den Trecks, die häufig von russischen Panzern
zusammengeschossen wurden, oder etwa bei der Flucht über das
frische Haff, als sie - von Tieffliegern bombardiert - im
Wasser versanken. Breit gibt er dem Leiden gepeinigter
deutscher Frauen Raum. Vermutlich wurden zwei Millionen von
ihnen vergewaltigt - eine der größten Massendemütigungen der
bekannten Geschichte. Dieses Schicksal ereilte übrigens auch
polnische Frauen, ja selbst viele der nach Deutschland
verschleppten ukrainischen oder weißrussischen
Zwangsarbeiterinnen.
Der Autor war britischer Offizier, wurde früh zum Romancier
und ist ein erfolgreicher Sachbuchautor. Sein Bestseller "Stalingrad"
wurde in neunzehn Sprachen übersetzt. Vor diesem Hintergrund
muß man auch sein neues Buch sehen, das nicht den Anspruch
erhebt, als wissenschaftliches Standardwerk betrachtet zu
werden. Ebensowenig hat Beevor den Ehrgeiz, Ereignisabläufe
dramatisch zuzuspitzen. Er bietet eine weit ausholende
Reportage, die gelegentlich langatmig wird, ja fahrig wirkt,
sich ab und an verzettelt. Doch kleine Ungenauigkeiten
können den positiven Gesamteindruck nicht schmälern. Man
folgt dem Untergang des Reiches mit anhaltender Spannung.
Während die Soldaten vor unseren Augen kämpfen, Deutsche wie
Russen in Massen sterben und die Bevölkerung leidet, bleibt
das Geschehen auf den höheren Ebenen von solchen Schrecken
frei. In den Armeestäben, auch auf deutscher Seite, wird bis
ganz zuletzt ruhig weitergearbeitet, an den Regierungssitzen
ohnehin. So greift Stalin tagtäglich mehrfach vom Kreml aus
in die Detailplanung vor Ort ein, stachelt beispielsweise
Schukow und Konjew gegeneinander auf, hetzt sie, ermuntert
jeden von ihnen, Berlin als erster zu erreichen und zu
erobern.
Verglichen mit Stalin, der das Geschehen über viele hundert
Kilometer verfolgt, ist Hitler dem Geschehen bis auf eine
Autostunde nahe. Aber auch er fühlt sich sicher. Hinter den
meterdicken Betonwänden seines Bunkers im Garten der
Reichskanzlei hängt er immer noch Siegesphantasien mit Hilfe
imaginärer Armeen an, bis ihn der lauter und lauter hörbare
Geschützlärm an das nahende Ende erinnert. Immerhin kann er
seinen 56. Geburtstag am 20. April noch halbwegs ordentlich
im Kreise enger Vertrauter begehen. "Kurz vor Mittag wurden
Göring, Ribbentrop, Dönitz, Himmler, Kaltenbrunner, Speer,
Keitel, Jodl und Krebs zur Reichskanzlei gebracht. Dort
schritten sie durch die riesigen, mit spiegelglattem Marmor
ausgekleideten Säle, deren Türen fast bis zur Decke reichten.
Dieses filmgerechte Denkmal zur Schau gestellter Macht
wirkte in seinem halb zerstörten Zustand beinahe grotesk,
aber immer noch furchteinflößend. Für viele der Gratulanten,
die an jenem Tag ihre Glückwünsche darbrachten, wirkte
Hitler um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Sie drängten
den ,Führer', sich nach Bayern abzusetzen, solange dies noch
möglich war. Aber Hitler erklärte im Brustton der
Überzeugung, die Russen erwarte vor Berlin ihre blutigste
Niederlage." Zwei Tage später jedoch brach er bei der
militärischen Mittagsbesprechung nach einem Tobsuchtsanfall
zusammen: "Er fiel völlig erschöpft in einen Sessel und
schluchzte auf. Zum ersten Mal sagte er unumwunden, der
Krieg sei nun verloren." Acht Tage danach setzte er seinem
Leben ein Ende. "Der Chef brennt!" Ob er das sehen wolle,
rief einer der SS-Wachmänner seinem Oberscharführer zu.
Ein besonderer Vorzug des Buches sind solche Skizzen, die
Situationen und Personen anschaulich begreifbar machen. Wir
sehen etwa Goebbels, Himmler oder Göring, natürlich auch
Hitler, auf beklemmende Weise vor uns. Realitätsfern und
rücksichtslos selbstbezogen, wie sie alle waren, blieb ihnen
völlig gleichgültig, was aus den Lebensgrundlagen des Landes
und aus der deutschen Bevölkerung wurde. Wichtig war nur
noch, die eigene Haut zu retten oder sich, wie Hitler und
Goebbels, einen theatralischen Abgang zu verschaffen.
Es macht nachdenklich, daß hier ein Ausländer ein Vorhaben
gewagt hat, dem deutsche Autoren, zumal die Gelehrten vom
Fach, bisher erstaunlicherweise ausgewichen sind: Lesern,
zumal jungen, die größte Katastrophe nahezubringen, die die
Deutschen in den vielen Jahrhunderten ihrer langen
Geschichte, vielleicht vom Dreißigjährigen Krieg abgesehen,
erlebt haben.
Viele auffallende Einzelheiten werden Lesern neu sein. Wer
weiß schon, welche heroische Rolle gerade Franzosen,
Angehörige der SS-Division "Charlemagne", ganz am Ende
spielten? Überraschen wird auch viele Leser, wie sich die
Eroberung Ostdeutschlands in russischen Augen spiegelte.
Denn Beevor hat nicht nur dortige Archive durchstöbert und
schriftliche Quellen genutzt, sondern mit ganz
unterschiedlichen sowjetischen Kriegsteilnehmern
ausführliche Gespräche geführt. Sie sind seinem Buch sehr
zugute gekommen.
Beevor behauptet, ein wichtiges Motiv für den verbissenen
Wunsch Stalins, Berlin vor den Westmächten zu erobern, sei
seine Hoffnung auf Uranfunde in der Dahlemer
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gewesen, mit denen er das eigene
Atombombenprojekt voranzubringen gedachte. Von Stalin stammt
auch der kuriose Gedanke, den seit 1933 ausgebrannten
Reichstag als das Symbol des "Dritten Reiches" zu betrachten
und daher durch eine demonstrative Flaggenhissung symbolisch
in Besitz zu nehmen. An sich hätte es doch viel näher
gelegen, das rote Banner über Hitlers Neuer Reichskanzlei
wehen zu lassen.
Beklommen liest man, daß, als alles zu Ende war, der Aufbau
einer Zivilverwaltung in den russisch besetzten Gebieten
Deutschlands dem NKWD, also der Geheimpolizei, anvertraut
wurde. Sie sollte in erster Linie "feindliche Elemente"
beseitigen. Schon vom ersten Augenblick an wollte Moskau
durch die Ausschaltung aller derer, die als potentielle
Gegner des Bolschewismus in Frage kamen, der Sowjetisierung
den Weg bereiten.
Von Peter Kruse
Hamburg - "Wie es nun einmal ist und immer sein wird, solange das Wesen
des Menschen gleich bleibt: In Frieden und Wohlstand leben Menschen nach
besseren Grundsätzen. Der Krieg aber, der die Annehmlichkeiten raubt, ist
ein harter Lehrmeister und gleicht die Leidenschaften der Menschen den
Gegebenheiten des Augenblicks an. Es wüten Zwietracht und maßlose Rache . .
."
Thukydides, Athener Chronist des Peloponnesischen Krieges
In Deutschland leben Männer und Frauen, die niemals ein Wort über ihre Väter
hörten, weil ihre Mütter vor Scham geschwiegen haben. Sie sind Geschöpfe
einer dunklen Vergangenheit, sie wurden zwischen Januar und Mai 1945 in
einem Rausch grausamer Rache gezeugt und in eine Welt der Zerstörung
hineingeboren. Sie sind heute 56 und 57 Jahre alt, und sie wissen nicht,
dass sie halbe Russen sind, Kinder vergewaltigter Frauen.
57 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der in Legionen von Büchern
dokumentiert, analysiert und gewertet ist, und dem eigentlich nichts mehr
hinzuzufügen wäre, wird ein neues Werk noch einmal die Gefühle der Menschen
aufwühlen. Das Buch des britischen Historikers und Schriftstellers Antony
Beevor, " Berlin 1945: Das Ende", es erscheint im September in deutscher
Übersetzung, hat Quellen erschlossen, die bis heute unzugänglich waren.
Beevor durfte in russischen Archiven Dokumente und Niederschriften von
russischen Augenzeugen lesen, die seit Stalin in den geheimen
Dokumentenbunkern von Moskau und Podolsk lagerten - ein Archiv des
Verschweigens, aus der Furcht, es würde ein Schatten auf den "Großen
Vaterländischen Krieg" der Sowjetunion gegen das Hitlerreich fallen.
Beevors Beschreibung der letzten 115 Tage des NS-Reiches, das er nüchtern
"Das Ende" nennt, ist auch ein Synonym für das Ende von allem, was wir unter
Zivilisation verstehen. Der abgrundtiefen Unmenschlichkeit, mit der Hitler
Leid über Europas Völker brachte, folgte die furchtbare Rache der
Überfallenen.
Berlin, Weihnachten 1944: Die Menschen leben in Bunkern, am Tage
bombardieren die Amerikaner die Stadt, in der Nacht die Engländer. Jeder
lebt in der Gewissheit, dass alles zusammenbricht, das Dritte Reich und die
persönliche Existenz. Die Bunker sind so voll, man zündet Kerzen an, um zu
prüfen, ob noch genug Sauerstoff vorhanden ist. Das Kürzel LSR als Hinweis
für Luftschutzraum haben die Bunkerbewohner längst in "Lernt schnell
Russisch" umbenannt. Es regiert der Galgenhumor. Die Empfehlung zum Fest
lautet: "Denk praktisch, schenk einen Sarg."
Weit im Osten versammelt sich in diesen Stunden eine gewaltige Streitmacht.
Hinter den drei Sowjet-Marschällen Rokossowski, Schukow und Konjew stehen
2,5 Millionen Soldaten der Roten Armee, 41 600 Kanonen, 6250 Panzer und 7500
Flugzeuge. Die Überlegenheit der Russen gegenüber Hitlers Armeen im Osten:
an Infanterie 11:1, an Panzern 7:1, an Geschützen 20:1 und an Flugzeugen
20:1. Das Ziel heißt Berlin. Hitler glaubt Berichten über diesen Aufmarsch
nicht: "Das ist der größte Bluff seit Dschingis Khan."
Am 12. Januar 1945 um 5 Uhr bei eisigen Temperaturen und dichtem
Schneetreiben ("Russenwetter") bricht der Feuersturm los, und mit ihm
beginnt der lange Leidensweg für Hunderttausende deutscher Mädchen, Frauen
und Greisinnen. Auf russischen Hinweisschildern an der Grenze zu Ostpreußen
stehen Schilder: "Soldat, du betrittst die Höhle der faschistischen Bestie!"
Auf den Sowjetpanzern steht "Rache und Tod den deutschen Okkupanten!"
Stalins Kriegspropagandist, der Schriftsteller Ilja Ehrenburg, spricht in
der Armeezeitschrift von der deutschen Frau als "blonde Hexe" und ruft nach
"Rache an den Deutschen".
Der sowjetische Offizier und Dramatiker Sachar Agranenko begleitet die Rote
Armee in Ostpreußen und schreibt in sein Tagebuch: "Sowjetische Soldaten
halten nichts von Verhältnissen zu einzelnen deutschen Frauen. Neun, zehn,
zwölf Mann zur gleichen Zeit - vergewaltigt wird im Kollektiv."
Sowjetische Offiziere, die die Gräuel missbilligen, trauen sich nicht, sie
beim Namen zu nennen. Sie sprechen vorsichtig von "unmoralischen
Vorkommnissen".
Kreml-Herr Stalin ist über die Ausschreitungen an der Front informiert. Er
erhält einen Lagebericht, in dem es heißt: "Viele Deutsche erklären, dass
alle Frauen, die in Ostpreußen zurückgeblieben sind, von Soldaten der Roten
Armee vergewaltigt werden. Selbst Zwölfjährige werden nicht verschont." In
einem Bericht der 43. Armee wird eine Frau namens Emma Korn genannt, "die
von zwölf Soldaten nacheinander vergewaltigt wurde".
Der Politoffizier eines Panzerregiments wird nach der Kapitulation am 8. Mai
1945 damit prahlen, dass die Rote Armee in Deutschland "zwei Millionen
Kinder hinterlassen" habe.
Wie sind diese Gräuel, die die Schlachtfelder von Ostpreußen bis nach Berlin
zwischen Januar und Mai 1945 säumten, zu erklären? Der sowjetische
Schriftsteller Wassili Grossman hat Stalins Armeen auf dem Weg nach Berlin
als Tagebuchschreiber begleitet. Er kommt zu dem Schluss: "Die extreme
Gewalt lähmte den menschlichen Geist auf dem ganzen Kontinent."
Der britische Historiker Beevor erklärt die Massenvergewaltigungen mit der
desexualisierenden Politik der Stalinzeit. Der Diktator verbannte alles
Sexuelle aus der sowjetischen Gesellschaft. Wenn schon Gefühle, dann waren
sie nur in der Hingabe an den großen Führer im Kreml erlaubt. Zudem waren
die riesigen Heere einfacher und ungebildeter Rotarmisten menschenunwürdigen
Drangsalierungen durch ihre Offiziere ausgesetzt. Als Drittes kam der
propagandistisch gesteuerte Hass auf alles, was deutsch ist, hinzu und
entlud sich bei Betreten des Nazireiches in grausamer Enthemmung.
Auch eine Besonderheit in der Roten Armee schürte die Begierde der einfachen
Soldaten. Stalin hatte seinen Offizieren erlaubt, sich eine "Frontfrau"aus
den Reihen des Nachrichtenpersonals, der Schreiberinnen und
Krankenschwestern, zu halten. Die junge Soldatin Musja Annenkowa schrieb
nach Hause: "Und das nennt sich Liebe! Kein echtes Gefühl, nur animalische
Lust."
Schriftsteller Grossman wollte das alles erst nicht wahrhaben, als er zur
kämpfenden Truppe abkommandiert wurde. Doch nach der Eroberung Schwerins
muss er in seinem Tagebuch notieren: "Ich sah den Schrecken in den Augen von
Frauen und Mädchen. Furchtbare Dinge werden den deutschen Frauen angetan.
Ein kultivierter Deutscher erklärte, dass seine Frau an diesem Tag von zehn
Männern vergewaltigt wurde."
Auch diese Szene steht in Grossmans Erinnerungen: "Eine junge Mutter wurde
in einer Scheune mehrfach missbraucht. Ihre Verwandten kamen und baten die
Soldaten, eine Pause zu machen, damit sie ihr Kind stillen könnte. All das
passierte ganz in der Nähe des Hauptquartiers unter den Augen der
Offiziere."
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt der Tagebucheintragungen des Schriftstellers
heißt es in einem Tagesbefehl Heinrich Himmlers an die Wehrmacht: "Der
Herrgott hat noch nie unser Volk verlassen."
In dieser zufälligen Duplizität zeigte sich der ganze Wahnsinn dieser Zeit,
in der deutsche Frauen sich sogar als verfolgte Jüdinnen ausgaben, im
Glauben, sich vor sowjetischen Übergriffen schützen zu können. Die Eroberer
hatten nur eine Antwort: "Frau ist Frau."
Als die Waffen ruhten, die Trümmer deutscher Städte noch glühten und die
Menschen aus ihren Kellern hervorkrochen, gab eine Berlinerin ihrem
unerwartet von der Front heimgekehrten Freund ein Tagebuch. Der junge Mann
las, dass seine Freundin von Russen vergewaltigt worden war. Er starrte sie
an, als sei sie wahnsinnig geworden. Er erhob sich und ging, um etwas zu
essen zu besorgen, wie er sagte. Sie sah ihn nicht wieder.
Vergewaltigte Frauen, die schwanger wurden, haben in ihrer Verzweiflung
Trost in der traurigen Tatsache gesucht, dass der Mann des Hauses im Krieg
gefallen ist. Andere ließen die "Russenfrucht" abtreiben, viele, die die
Kinder der Gewalt zur Welt brachten, trennten sich von ihren Babys in der
Klinik, weil sie wussten, dass ihr Ehemann, Verlobter oder Freund niemals
akzeptieren würde, was geschehen ist. Und eine unbekannte Zahl von Frauen
zog ihre Russenkinder auf - und schweigt bis heute. Wie viele sich in
späteren Jahren, als die Kinder russischer Väter schon groß waren,
offenbarten, auch das ist unbekannt.
Es ist in gewisser Weise beruhigend für das Deutschland von heute, dass der
Autor Antony Beevor ein Engländer ist. Wäre es ein Deutscher gewesen, dem
sich die Geheimarchive in Russland geöffnet hätten, wäre ein neuer
Historiker-Streit in diesem Land vehement ausgebrochen. Der Tenor: Das
vereinigte Deutschland wolle endgültig einen Strich unter die Vergangenheit
ziehen, indem begangenes Unrecht mit dem Unrecht anderer aufgerechnet wird.
Das hat uns der Brite Antony Beevor erspart.
erschienen
am 12. Aug 2002 in Kultur / MedienGeschichte ist unteilbar
Zur Debatte um das deutsche Selbstverständnis
Von Johann Michael Möller