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António Lobo Antunes

(n. 1942)

António Lobo Antunes na Alemanha

 

N Z Z  Online

Neue Zürcher Zeitung, 18. Oktober 2005, Ressort Bücherherbst

Afrika – nur Trümmer, Verkohltes und Minen

Der Portugiese António Lobo Antunes und das Trauma des Angola-Kriegs

Von Uwe Stolzmann

Was hat der Dichter im Krieg getan? Er hat getötet, vermutlich. Ab Januar 1971 ist António Lobo Antunes 27 Monate lang in Angola gewesen, ein Arzt und Offizier aus aristokratischem Haus, gut aussehend, jung und hochbegabt, in einem Feldzug der Kolonialmacht Portugal gegen die schwarzen Rebellen. Knapp dreissig Jahre später sagt der Psychiater Lobo Antunes im Interview: «Ich frage mich, wieso ich keine Schuldgefühle habe, wo ich doch an grauenhaften Dingen teilgenommen habe.» Und dann blockt er ab: «Über den Krieg sprechen möchte ich nicht; ich rede nie vom Krieg, weil er zu entsetzlich  war.»

Biografische Bruchstelle

Er spricht nicht davon, doch er schreibt darüber, immer wieder, obsessiv. (Das zweite Thema ist Portugals Wahn und Weltschmerz, der Selbsthass einer Nation nach dem Verlust früherer Herrlichkeit.) Der Afrika-Einsatz war die Bruchstelle seiner Biografie. Angola – selbständig seit 1975, aber rasch vom Bürgerkrieg verwüstet – blieb im Werk von Lobo Antunes deshalb stets präsent, in den qualvollen Rückblicken mancher Protagonisten. Sie schauen in den Spiegel der Erinnerung, doch das Glas ist zersplittert. «. . . als im Anschluss an das, was sie Unabhängigkeit nannten, will heissen, als die Neger zur Tür hereinkamen und uns bestahlen, will heissen, als die Neger, sich gegenseitig beschimpfend, sich prügelnd, die Möbel, die Herde, die Kleider wegtrugen . . .» Kein Satz, kein runder Gedanke, nur Fetzen und Verbitterung.

Jahrzehnte nach seiner Rückkehr aus Afrika hat António Lobo Antunes der ehemaligen Kolonie den Roman «Guten Abend ihr Dinge da unten» gewidmet: 750 Seiten stark, wie aus einem Block gehauen (man ahnt noch den Umfang der Urschrift), das Porträt eines von weissen Herrenmenschen und schwarzen Kriegsfürsten gepeinigten Landes. Eine Anklageschrift. «Ich wurde darum gebeten dass wir dieses Problem in Angola lösen, und wir haben es gelöst, indem wir zuerst die Neger zerstörten, uns den übrig gebliebenen Negern anboten, damit sie uns zerstörten . . .»

Eine Fabel, so etwas wie eine Handlung, ist in den Büchern von Lobo Antunes stets nur schwer zu erkennen. Doch es gibt sie auch hier, und so etwa geht die Geschichte: Ein «Dienst» aus Lissabon – die Geheimpolizei – macht während des Kriegs illegale Geschäfte mit Diamanten. Aber noch in Afrika verschwinden die kostbaren Frachten. Aus diesem Grund schickt der «Dienst» erfahrene Agenten in die Kampfzone, erst einen und, als der nicht zurückkehrt, den nächsten, den übernächsten. («. . . eine Routinesache, drei, höchstens vier Tage, um die Reste eines Ihrer Kollegen wegzuräumen, der ist da in Afrika geblieben . . .») Im Operationsgebiet, zwischen Chiffrierbuch und toten Briefkästen, finden sich die Männer plötzlich allein gelassen, abgeschnitten von der Zentrale. Schlimmer noch: Jeder hat den Eindruck, selbst verfolgt zu sein, und schon beginnt ein groteskes Katz-und-Maus-Spiel der Schlapphüte à la John le Carré. («. . . und der erste Rest, der wegzuräumen ist, ist er selber, ein paar Dokumente, die uns Ärger bringen könnten, und selbstverständlich die Diamanten . . .»)

Als der Umsturz droht, das Ende der Diktatur in Portugal, werden die reisenden Agenten für die Auftraggeber zur Gefahr. Denn von schmutzigen Undercover-Aktionen wollen die Chefs daheim nichts gewusst haben. Den Dienst gebe es nicht mehr, «es hat ihn nie gegeben», und alles Gerede von Edelsteinen sei Verleumdung; «wir streiten nicht ab, dass es um Afrika ging, aber Export von Kunsthandwerk, Kompott». Neuerlich werden Killer ins Krisengebiet gesandt (Cleaner, im Thriller-Jargon), und wieder beseitigen sie dort die eigenen Kollegen . . .

Solostimmen im Chor

Viele Figuren kommen in diesem Buch zu Wort, fast durchweg Verlierer im Krieg der Gierigen. Ihre Solostimmen vereinen sich zu einem Chor der Wut und Verzweiflung, «denn das ist Afrika, nur das, Trümmer und Verkohltes und Minen». Und der Leser? Verliert sich – in einem Labyrinth aus Gedankensplittern und apokalyptischen Visionen. Der Chor, das Labyrinth, Lesers Verlorenheit: Das kennen wir aus früheren Romanen des Portugiesen, von diesen Textskulpturen, die so beängstigend perfekt wirken und in ihrer Perfektion einander so ähnlich wie Porträtbüsten aus der Werkstatt antiker Bildhauer. Was wäre hervorzuheben an diesem Roman? Der wieder rein weisse, konsequent koloniale Blick auf die Dinge «hier unten». «Maniok- und Negergeruch» wird erinnert, «ein Land von Negern, ein von Negern schmutziges Land». Da funktioniert diskriminierende Sprache als Spiegel für eine bestimmte diskriminierende Weltsicht.

Was fällt noch auf am neuen Lobo Antunes? Der grimmige Humor des Meisters, erkennbar schon an der Story. Und die Tatsache, dass eigenes Tun, auch eigene Schuld im Krieg, erneut – wie soll man sagen? – beredt beschwiegen wurde. Im eingangs erwähnten Interview aus dem Jahr 2000 (María Luisa Blanco: «Gespräche mit António Lobo Antunes») ging der Autor etwas näher an den Abgrund, so nahe er vermochte: «Als mich ein Journalist einmal fragte, wie viele Menschen ich umgebracht habe, konnte ich ihm keine Antwort geben, weil viele Menschen in dieselbe Richtung geschossen hatten . . .»

 

 

 

Artikel erschienen am Sa, 10. Dezember 2005

Bind dein Lächeln ins Taschentuch

Vermutungen über Angola: Der neue Roman von António Lobo Antunes

von L. Schmidt-Mühlisch

António Lobo Antunes: Guten Abend ihr Dinge hier unten. A. d. Port. v. Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand, München. 750 S., 25,60 EUR.

Der Roman beginnt wie ein Gedicht: "Ich weiß nicht, ob sie gesagt hat / - Das war das Haus / oder / (möglicherweise) / - Vor zwanzig Jahren haben wir / oder / (kann sein, aber sicher bin ich mir nicht) / - Hier habe ich gewohnt." Und er bleibt eigentlich auch ein Gedicht: Metaphern, Assoziationen, Vermutungen, Erinnerungsfetzen, eingeblendete Stücke von Wirklichkeit. António Lobo Antunes, der große portugiesische Romancier, hat eigentlich immer eine Prosa verfaßt, die von den üblichen Schreibweisen abwich. Aber sein jüngster Roman "Guten Abend ihr Dinge hier unten" übertrifft die vorangegangenen Bücher bei weitem. Eigentlich ist es eine ungebrochene Abfolge von inneren Monologen, eingeschobenen Protokollen, Berichten und Statements. Das Thema kennt man schon aus den früheren Werken, nur steht es diesmal fast ausschließlich im Blickpunkt: die frühere portugiesische Kolonie Angola, gelegen an der südlichen Atlantikküste Afrikas, zwischen Kongo und Namibia. Lobo Antunes hat Ende der 60er Jahre 27 Monate lang als Militärarzt in Angola gearbeitet, und diese Zeit ist zum Trauma seines ganzen Lebens geworden. Der Schriftsteller, 1942 in Lissabon geboren, hat nach seiner Rückkehr aus Afrika lange als Psychiater gearbeitet, und seine Bücher darf man denn wohl auch unter anderem als psychiatrische Selbsttherapie betrachten. Aber sie sind natürlich vor allem Sinnbilder eines europäischen Traumas, das der Kolonialismus nicht nur in Portugal hinterlassen hat. Und es sind innere Szenarien menschlicher Schuld, verhängnisvoller Irrungen, Bilder von Ausweglosigkeit, Verstrickung und einer Zerstörungsmacht, die sich immer wieder aufs Neue selbst gebiert. Lobo Antunes steigert das historische Trauma Portugals zur großen Metapher der menschlichen Grundproblematik: Wie befreit sich der Mensch von der Kette Schuld, Rache und neuer Verstrickung.

Wer die "Story" dieses neuen Romans erzählen will, gerät schnell in Schwierigkeiten. Der Leser begreift zwar irgendwann, daß es äußerlich um die Entsendung portugiesischer Geheimagenten ins "befreite" Angola geht, das sich praktisch seit der Unabhängigkeit 1975 in einem Bürgerkrieg befindet. Die Agenten betreiben undurchschaubare Diamantengeschäfte, aber von den fünf ausgeschickten "Zielpersonen", die auch das Schicksal ihrer Vorgänger erkunden sollen, kehrt keiner zurück, von einem erfolgreichen Geschäftsabschluß nicht erst zu reden.

Aber darum geht es António Lobo Antunes auch nicht. Was an den verschiedenen Protagonisten, die man als Leser kaum zu identifizieren vermag, dargestellt werden soll, ist eher der Prozeß einer inneren Zerstörung als Folge eines drei Jahrzehnte währenden Krieges. Da werden Erinnerungsbilder beschworen, Menschen, die sich sowohl in persönlichen Dramen bis hin zum Inzest zerstören, als auch im Treibsand von Revolution und Haß verlieren. Der Epilog vollendet dieses blutbefleckte Nirwana in der fast zynisch anmutenden Perspektive eines Kindes, das die Gegenwart des Landes als Urlaubsidylle betrachtet, so, als sei weiter gar nichts geschehen.

Aber António Lobo Antunes liebt dieses Afrika. Er begreift, daß die ungeheure Dominanz der Natur im Zusammenklang mit der europäischen Kultur einen faszinierenden Akkord anschlägt, der aber zugleich zwangsläufig in einer schrillen Dissonanz mündet. Und so entsteht ein Buch, das immer wieder Sehnsüchte zärtlich berührt, um dann in neuen Schrecken schmerzvoll geradezu aufzuschreien. In dieser Gegensätzlichkeit ist es wohl auch begründet, daß der Roman sich nie zu Aussagen der Gewißheit bewegt. Alles ist wahr, aber alles ist zugleich auch nur eine Vermutung. Das liest sich nicht leicht, weil 750 Seiten rätselhafter Ahnungen kaum zu bewältigen sind. Andererseits gelingen Lobo Antunes immer wieder faszinierende Perspektiven und Metaphern, von der Übersetzerin Maralde Meyer-Minnemann übrigens glänzend ins Deutsche übertragen, die die ganze Polyphonie des afrikanischen Kontinents zum Klingen bringen. Von einem Vater ist da zum Beispiel die Rede, der sein Lächeln in ein Tuch faltet und es in die Tasche steckt. Und Brillengläser werden zu Aquarien, in denen die Blicke mit den Schwanzflossen schlagen - ein Bild, das für den ganzen Roman stehen könnte: In den Augen des Betrachters gerät dieses unglücklich faszinierende Land immer wieder ins Schwanken, verwirren sich die Perspektiven, verändert die Wahrnehmung ihre Intensität. Lobo Antunes maßt sich nicht an, etwas Sicheres über Angola sagen zu können, schon gar nicht zu bestätigen, was die politischen Klischees der Zeitgeschichte stereotyp wiederholen. So erscheinen etwa die Erdölplattformen und die Amerikaner immer wieder wie Gespenster am Horizont, aber Lobo Antunes sagt auch: "Es waren nicht die Amerikaner, die mit mir gesprochen haben, ich persönlich habe sie nie gesehen, und ich frage mich, ob sie überhaupt jemand gesehen hat, alle erzählen immer wieder, daß sie in Angola unterwegs waren, aber das sind wahrscheinlich nur Gerüchte."

Vermutungen über Angola. Nichts ist wie es scheint. Aber ist es wohl doch. Angola, das ist zugleich die Metapher der Unmöglichkeit, einen Roman schreiben zu können über das Unglück der Menschen, das längst im Bewußtsein auch die Dimension der Globalisierung erreicht. Aber dieser "unmögliche" Roman offenbart auch eine poetische Kraft, die den Schrecken aufzufangen vermag: Das rote Kleid einer ermordeten Mutter wächst in den Augen des Kindes am Boden entlang und die Wände hinauf. Ergreifender läßt sich das Grauen wohl kaum beschreiben.

 

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.12.2005, Nr. 294 / Seite 46

 

Im Auge des afrikanischen Sturms
António Lobo Antunes entwirft in seinem Roman das Bild eines Kontinents und das Panorama einer Epoche
 

António Lobo Antunes: "Guten Abend, ihr Dinge hier unten". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand Literaturverlag, München 2005. 752 S., geb., 24,90 [Euro].

 

17. Dezember 2005 Dieser Roman von António Lobo Antunes ist beides zugleich, ein Meisterwerk und eine Zumutung - das diametrale Gegenteil des Unterhaltungswerts, den manche Kritiker an Büchern junger deutscher Autoren loben: Stichworte "lineares Erzählen" und "leichte Lesbarkeit". Statt dessen tritt die Handlung auf der Stelle oder dreht sich so lange im Kreis, bis dem Leser schwindlig und schwarz vor Augen wird und er die wechselnden Protagonisten kaum noch voneinander unterscheiden kann. Die Verunsicherung ist gewollt, ebenso die sprachliche Redundanz und der Wiederholungszwang des Textes, denn es geht nicht um eine chronologisch erzählte Geschichte, die Anfang und Ende hat, sondern um das Eintauchen in eine verdrängte Vergangenheit, deren spiralförmiger Sog den Erzähler - und mit ihm den Leser - immer tiefer in seinen Strudel zieht: ein Sprach- und Bewußtseinsstrom, genauer gesagt ein innerer Monolog, wie man ihn von Faulkner und Uwe Johnson kennt oder auch aus den Romanen von Claude Simon. Am Ende addiert sich die Vielfalt einander überschneidender oder ins Wort fallender Stimmen, flirrender Einzelbeobachtungen und irritierender Details zu einem pointillistischen Gemälde, aus dessen verschwimmenden Konturen dem Leser das Bild eines Kontinents und das Panorama einer Epoche vor Augen treten.

Es geht um Portugals faschistische Vergangenheit, auf deren Ruinen nach der sogenannten Nelkenrevolution von 1974 eine Europa zugewandte, moderne Demokratie entstand, die sich vom Schmuddelkind zum Musterschüler der Europäischen Union entwickelt hat. Wie Dante und Vergil in der Unterwelt nimmt der Autor den Leser an der Hand und führt ihn durch die Katakomben der portugiesischen Kolonialgeschichte, in deren Labyrinth nicht nur Akten, sondern auch Tote lagern, die es nach offizieller Lesart nie gegeben hat. Die Leiche im Keller heißt Angola, und im Originalton des Autors hört sich das so an: "Ich wurde darum gebeten, daß wir dieses Problem in Angola lösen, und wir haben es gelöst, indem wir zuerst die Neger zerstörten, uns den übriggebliebenen Negern anboten, damit sie uns zerstörten, bis für die Amerikaner, die dann kommen würden, nur noch Bailundos übrig waren, die auf ihren Tod wartend dasitzen, nur noch ich, der ich auf meinen Tod warte, und eine Mulattin, die uns alle mit dem Palmstrohfächer vor den Fliegen schützt . . ."

António Lobo Antunes' Roman schildert das Geschehen nicht aus auktorialer Zentralperspektive, sondern aus der Froschperspektive nicht selbst handelnder, sondern vom Handeln anderer betroffener Personen, über die der Orkan der Geschichte hinwegfegt ohne Rücksicht auf die Individuen. Das Auge des Sturms, will sagen, der allwissende Erzähler von einst mutiert zum Geier, der den Worten eines verwundeten Soldaten, es gehe ihm gut, keinen Glauben schenkt und langsam näher hüpft, während dieser den Knieverband fester zurrt. Aber kein Schnabelhieb macht ihm den Garaus, sondern ein Kolbenschlag ins Genick, mit dem ein Vorgesetzter oder Kamerad ihn von seinen Qualen erlöst.

Was in Angola geschah, war kein schmutziger kleiner Kolonialkrieg, der mit der Entlassung in die Unabhängigkeit endete, denn danach fing das Morden erst richtig an. Es gab drei rivalisierende Befreiungsarmeen, die sich in wechselnden Allianzen bekämpften: Agostinho Netos marxistisch orientierte MPLA, Holden Robertos an der Nordgrenze operierende FNLA und Jonas Savimbis antikommunistische Unita. Die Nachbarländer Zaire (Mobutu) und Südafrikas Apartheidsregime mischten sich ein, und mit brüderlicher Hilfe der DDR führte die Sowjetunion einen Stellvertreterkrieg gegen die Vereinigten Staaten auf dem Boden Angolas, wo südafrikanische und kubanische Söldner sich gegenseitig massakrierten. Hauptopfer aber war die zwischen den Fronten steckende Zivilbevölkerung, auf deren Rücken der Konflikt ausgetragen wurde, und wie im Kongo erwies sich der natürliche Reichtum des Landes als Fluch, der den sich selbst finanzierenden Krieg endlos in die Länge zog: "Das waren nicht einmal die Amerikaner, es hieß, anfangs hätten sie Ölplattformen in Cabinda gebaut und sich dann für andere Dinge interessiert, als sie begriffen hatten, daß die anderen Dinge ihnen auch Geld brachten, das Kupfer, die Baumwolle, der Kaffee, die Waffen, mit denen die Neger sich gegenseitig umbrachten, und über die Waffen kamen sie zu den Diamanten, selbstverständlich nicht direkt, ein paar Holländer, ein paar Russen . . ."

Um Diamanten geht es auch hier, genauer gesagt um eine zynische Geheimdienstintrige, deren Ziel und Zweck sich dem Leser, wie in einem Thriller von John le Carré, erst allmählich, im Lauf der Lektüre, erschließt. In einer als Fabrik getarnten Dienststelle des portugiesischen Geheimdienstes wird ein junger Mann, der zuerst Seabra, später Migueis und dann Morais heißt, von Lissabon nach Luanda in Marsch gesetzt, um im Auftrag seiner Vorgesetzten eine Routineangelegenheit zu regeln, die in vier, fünf Tagen erledigt sein soll, in Wahrheit aber Monate oder Jahre dauert und mit dem Tod der "Zielperson" endet, die kein anderer ist als der Agent selbst. Die Diamanten, mit denen Portugals Geheimdienst im Zusammenspiel mit der CIA verdeckte Operationen finanziert, werden denen zum Verhängnis, die zu ihrer Beschaffung ausgesandt wurden, und die Jäger des verlorenen Schatzes bringen sich gegenseitig um, während das Objekt ihrer Begierde unauffindbar bleibt. Dieses aus Abenteuerromanen bekannte Modell dient dem Autor als Vehikel, um eine ganz andere Geschichte zu erzählen, die wenig mit Diamanten zu tun hat, aber um so mehr mit Portugal, das seine deklassierte Landbevölkerung in die Kolonien exportiert, wo die ungelösten Widersprüche sich dann gewaltsam entladen. Jeder Protagonist des Romans schleppt das Übergepäck einer unbewältigten Vergangenheit mit sich herum, die Kindheit in einem tristen Vorort von Lissabon, den Selbstmord der Mutter oder den sexuellen Mißbrauch durch einen katholischen Pater, und der Traum vom schnellen Reichtum in den Kolonien wird zum Albtraum, in dem nach Angola verschickte Mädchen für den Rückflug nach Lissabon sparen und ihr als Prostituierte verdientes Geld am Strand vergraben.

Anders als John le Carré erzählt António Lobo Antunes nicht bloß eine Spionagegeschichte, sondern macht das Schreiben selbst zum Thema ("Wie schwierig dieser Roman doch ist, er gehorcht nicht"), und es überrascht nicht, daß und wie er gegen die politische Korrektheit verstößt und, statt Afrika schönzureden, die titelgebenden "Dinge da unten" beim Namen nennt: "Als nach der Unabhängigkeit, will heißen, nach Gesängen und Getrommel und ausgeweideten Läden und verlassenen Banken niemand wußte, wo die Angestellten waren, die Polizei unsichtbar war, während Tausende Weiße auf dem Kai zwischen Bündeln, Säcken, Koffern verzweifelten, die die Neger Tag für Tag plünderten, während die Kubaner und die Russen allmählich ankamen, und der Direktor, wütend auf mich, rief den Präsidenten, die Fahne als Zeugen an . . . "

  

FRANKFURTER RUNDSCHAU

 

Dokument erstellt am 20.12.2005 um 15:48:01 Uhr
Erscheinungsdatum 21.12.2005
 

Im Pyjamaknopf

António Lobo Antunes' Sprechoper "Guten Abend ihr Dinge"

VON THOMAS LAUX
 

Das Buch

António Lobo Antunes: "Guten Abend ihr Dinge hier unten." Roman in drei Büchern mit Prolog & Epilog. Aus dem Portugiesischem von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand Literaturverlag, München 2005, 750 Seiten, 24,90 Euro.

  

Immer wieder Angola. Der Portugiese António Lobo Antunes trägt die Erinnerung an seine verbrachte Zeit in diesem Land mit sich wie die Schnecke ihr Haus: buchstäblich als Last. Von 1971 bis 1973, mitten im 14-jährigen portugiesischen Kolonialkrieg, erlebte er die dortigen Gräuel hautnah in seiner damaligen Funktion als Psychiater. Diese Erfahrungen durchziehen seine Bücher im Grunde bis heute, bilden eine Art Ur-Trauma, eine nicht heilen wollende Wunde. Und dennoch ist dieses Thema bislang von ihm vergleichsweise zögerlich behandelt worden. Zwar wurde immer wieder darauf verwiesen, zwar bildete es durchaus lokalisierbar eine Art Subtext im existenziellen Kosmos des Portugiesen, dennoch war es nie Gegenstand über die Länge eines ganzen Romans.

Man hatte ein wenig den Eindruck - und der Romancier bestätigte es selbst auch einmal in einem Gespräch -, als zögere er noch, sich dieser schmerzhaften Aufgabe in toto zu stellen. Mit dem vorliegenden neuen Buch scheint diese Lücke geschlossen zu sein. Zum ersten Mal dringt Lobo Antunes zu diesem verschatteten Kern seiner eigenen Biographie vor, sucht er die Konfrontation mit dieser Phase seines Lebens gleichsam als ein großes, kathartisches Unterfangen. Gleich zu Anfang des Romans wird aus dem Munde einer der mitspielenden Figuren allerdings eine Art Negativ-Losung ausgegeben; und die klingt wie eine Warnung: "Die Hölle besteht darin, dass wir uns die ganze Ewigkeit lang erinnern." Tatsächlich glaubt man sich das eine oder andere Mal in Sartres Geschlossene Gesellschaft versetzt, in ein dialektisches Hin und Her der Meinungen, dem Nichtendenkönnen feindseliger Konfrontationen - auch mit sich selbst, der eigenen Geschichte. Doch diese gedankliche Assoziation führt nachgerade in die Irre, denn bei dem heute 63-jährigen Portugiesen ist nichts, wie es scheint, viele derartige Sinnbojen verschwinden da rasch im Nebel.

Subjektivität des Krieges

Lobo Antunes, das muss hier nicht ausdrücklich betont werden, schreibt keine philosophisch inspirierte oder gar - da der Name Sartre fiel - engagierte Literatur. Wer indessen geglaubt hatte, ein Buch über den portugiesischen Kolonialkrieg impliziere notwendig auch eine Kritik am politischen System, eine Perhorreszierung der damaligen Militärmacht sowie eine humanistische Empörung en général, der wird bei Lobo Antunes nicht auf seine Kosten kommen. Um es gleich festzuhalten: Angola und der Krieg erscheinen hier abermals in seiner ausdrücklich persönlichen Wahrnehmung, will heißen, als ästhetisiertes, polyphon strukturiertes Gebilde, in dem die auftauchenden Stimmen sich überlagern und wieder verlieren, bestenfalls als ein diffuses Echo im Hintergrund zurückbleiben und dabei immer uneindeutiger werden.

Es ist, als ob man auf einem Instrument einen Ton anschlüge und ihn durch Hall und andere technische Einflüsse bis zur Unkenntlichkeit verzerrte, ihn mal lauter, mal leiser werden ließe, bis das Ursprüngliche aufgehoben wäre und in einem ungeahnten Klanguniversum zu neuem Leben erweckt würde. Jegliche Zuordnung erschiene im Laufe dieser Verfremdung obsolet, wie es überhaupt zunehmend abenteuerlicher wird, auf einen Plot zu verweisen. Das Erzählte bei Lobo Antunes ist überwiegend halluziniert und wirkt damit artifiziell. Kaum ein Satz wird zu Ende gesprochen, Kommata und Punktsetzung sind vollständig suspendiert, stellenweise werden nicht einmal Worte zu Ende geschrieben (beziehungsweise gesprochen), Lautmalereien von schlagenden Käfigtüren im Wind etwa ("tleck-tleck") gehören in dieser 750-seitigen Sprechoper ebenso zum Pensum wie manch buchstäblich leer ausgeführte Parenthese. Nur andeutungsweise lassen sich in diesem Roman Erzählmuster identifizieren.

Schock und Schemen

So erfährt man von Agenten, Staatsdienern, die, Fantomen gleich, von Lissabon aus in die Kolonien geschickt werden, um Dokumente verschwinden zu lassen. Auf der Suche nach gestohlenen Diamanten verlieren sie sich auf seltsamen Pfaden; ihr angestimmtes Lamento speist sich wohl aus dem Schock der Konfrontation mit einer Situation, die sie kritisch herausfordert sowie deutlich ihre Unfähigkeiten illustriert. Diese Figuren bleiben aber, wie man es dreht und wendet, schemenhaft, erst recht entwickeln sie sich nicht, wodurch auch die unter mühsamer Lesart herauszufilternde Kritik an den Erscheinungsformen von Rassismus und Kolonialismus nicht zu einem sinnvoll-tragfähigen Diskurs geraten kann. Immer wieder, wenn man glaubt, etwas verstanden zu haben, quatschen irgendwelche fremden Stimmen dazwischen und lösen alles auf. Es gibt, gewiss, auch eine poetische Unterfütterung des Ganzen, aber auch sie bleibt weitestgehend undechiffrierbar (Zitat, willkürlich herausgegriffen: "(…) und obwohl ich ein Flamingo bin, sind die Blusen nicht meiner Meinung"; "(…) sie löst meine Finger voneinander, und ein Pyjamaknopf, im Pyjamaknopf die Erinnerung an den Apfel und die Zahnpasta, nicht an die leeren Bügel").

In einem Wort: Man ist meilenweit entfernt von den früheren Büchern Lobo Antunes', den starken Entwürfen wie Der Judaskuss oder Die Vögel kommen zurück. Das war die Zeit, da Plot und Diktion bei ihm noch zur Deckung kamen. Man würde gerne auf Geduld plädieren im Umgang mit dem jetzigen, überlangem Buch, aber wird man am Ende auch wirklich dafür belohnt?

Lobo Antunes mutet einem viel zu, man schließt das Buch indessen ohne genuinen Erkenntniszugewinn. Der Portugiese spielt fahrlässig mit Themen, die uns stark interessieren, und diese Entwicklung ist schade. Man muss nicht konservativ einer bewährten Form des Romans das Wort reden, anderseits muss man auch nicht ein Spiel mitspielen, das den verwegensten Formen des l'Art pour l'art bedenklich nahe gekommen ist und sein ganzes (auch politisches) Potenzial auf geradezu groteske Weise zur Disposition stellt.

 

 

Hier wird das Komma nur geduldet

Rezensiert von ALEXANDER KISSLER - 10-03-2006

ANTÓNIO LOBO ANTUNES: Guten Abend ihr Dinge hier unten. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand Literaturverlag, München 2005. 750 Seiten, 24,90 Euro.

Die meisten Bücher sind nachsichtig mit ihrem Publikum, nehmen es nicht übel, wenn die Tage ungelesen vergehen. Sobald die Neugier zurückkehrt, öffnen die Bücher freudig ihre Pforten, und alles ist wie ehedem. Die Figuren, die man vor zwei oder drei Wochen hinter sich ließ, stehen blitzblank und unlädiert wieder auf, nach wenigen Seiten weiß der Leser: Ja, so ist es gewesen. Die Bücher des António Lobo Antunes hingegen werben nicht um Aufmerksamkeit. Sie kommen spröde daher, verrätselt, herrisch; wer für einen Tag mit der Lektüre aussetzt, geht verloren im Gestrüpp der Zeiten, Figuren und Erzählstränge. Dennoch gibt es kaum ein aufregenderes Leseabenteuer als die Reise in diesen Kosmos der Niedertracht und der Ängste. Weshalb?

Auch auf den neuen 750 Seiten triumphiert der unverwechselbare Antunes-Sound, der das Entlegenste zusammenbindet und neue, innere Wirklichkeiten schafft: „Er steckte mir den lebenden Fisch seiner Hand entgegen, der gerade aus dem Eimer der Tasche herausgezogen worden war, sich wehrte, protestierte, sich beruhigte“. Auch in „Guten Abend ihr Dinge hier unten“ erkennt man das Kapitelende daran, dass hier und nur hier ein Punkt den Satz beschließt, weshalb wir es, streng genommen, mit 32 Sätzen von jeweils rund 25 Seiten zu tun haben. Innerhalb der Kapitel wird das Komma nur geduldet. Einzig der Spiegelstrich sorgt für den Anschein von Ordnung, indem er die wörtliche Rede ankündigt.
An wen diese gerichtet ist, wer spricht und wer hört, ob überhaupt geredet und nicht nur gedacht wird, erschließt sich oft erst im Nachhinein, eine Zeile, eine Seite, vier Kapitel später. Allein nach Art musikalischer Leitmotive wiederkehrende Wendungen – „ich, ein Schwanz, ein felliges Auge, ein Horn“– geben zuverlässig Aufschluss, wessen Bewusstsein sich äußert. „Haben Sie keine Angst“, sagt Artur Seabra, der sich gerne mit einem Stier vergleicht, „das ist eine Wortgeschichte, alles erfunden, alles Lüge“. Auch ihm gilt die Mahnung des Geheimdienstchefs: „Sie brauchen so lange um eine Geschichte zu erzählen.“

Man mag streiten, ob es 750 Seiten sein müssen, doch deutlich kürzer, entschieden klarer lässt sich diese Geschichte, die die Geschichte Portugals ist und, darüber hinaus, die Geschichte der Menschheit, nicht erzählen. Seabra, dem melancholischen Ex-Geheimdienstmitarbeiter, ist der Schlüsselsatz auch dieses Romans aus der Ein-Mann-Werkstatt des Lobo Antunes zugeordnet: „Die Hölle besteht darin, dass wir uns die ganze Ewigkeit lang erinnern“. Seabra will sich nicht erinnern an die fünf Jahre auf einer Fazenda im damals noch portugiesischen Angola, die er okkupierte, indem er deren Vorbesitzer, einen Ex-Geheimdienstmitarbeiter, tötete. Auch Jaime Miguèis, Seabras Mörder im Auftrag des Geheimdienstes, fleht sein Opfer an: „Wann helfen Sie mir, mich an nichts mehr zu erinnern, nichts zu erkennen, mich um nichts zu scheren“. Vergessen will Miguèis „fünfundzwanzig Jahre harmonischer, ruhiger Ehe“ nach dem Motto „keinerlei Vertraulichkeiten mit Frauen und Hunden“. Vergessen muss er den Krebstod der Tochter, die mit 37 Jahren starb und ihm den tieftraurigen Satz hinterließ: „Sie kennen von mir nur meinen Zorn.“
Das postmoderne Kainsmal

In den Jahren kurz vor und kurz nach der Unabhängigkeit Angolas anno 1975 lösen die Männer in ihrer erfolglosen Arbeit einander ab: der Geheimdienst schickt sie nach Luanda, damit sie „einem Kerl den Kopf zurechtrücken, der dem Dienst Schaden zufügt“, damit sie „die Reste eines Ihrer Kollegen wegräumen“, ihn töten. Bestraft werden soll das jedesmal identische Vergehen: In die eigene Tasche wirtschafteten Seabra und dessen Vorgänger. Sie sind dem Geheimdienst, der den Diamantenhandel kontrollierte, in die Quere gekommen, haben die kostbaren Steine gehortet, statt den Profit nach Lissabon weiterzuleiten. Keiner kehrt in die Heimat zurück. Der 61-jährige Miguèis tötet Seabra, ehe er dem jungen Major Morais zum Opfer fällt. Und Morais wünscht sich nur eins: nicht mehr zu sein, „in der Lücke zwischen den Sofakissen zu versinken“.

Wie beschädigt ist ein Leben, das nur der Traum von der Verlöschung am Dasein hält? Sind es private Defekte, die die Figuren so übel zugerichtet haben? Die Gier, die Triebe, die Einsamkeit? Zwei Phänomene von globalem Rang bildet das Werk des ewigen Nobelpreiskandidaten ab: die Unerzählbarkeit der Gegenwart und die seelische Überforderung der Gegenwartsmenschen – laut Lobo Antunes deren postmodernes Kainsmal. Diese Versager, Verdränger, Verächter sind keine landestypische Spezialität, wie sie nur Portugal hervorbringen konnte. Seabra, Miguèis, Morais leiden an den Demütigungen, die sie sich mit ihren eigenen Gedanken zufügen. Sie sind das Produkt des Bildes, das sie sich von der Welt und sich selbst machen.
Von Überforderung zu Überforderung stolpern die Missetäter, weil sie gefangen sind im Strudel der Selbstbezüglichkeit. Nervenreize sind die anderen, die Lust verschaffen oder Qual, niemals aber als autarke Subjekte wahrgenommen werden: lebende Fische, feixende Dinge allesamt. Der Nebenmensch ist das Ding gegenüber. Das selbstbezügliche Bewusstsein entstellt jedes Leben zur Sache, auch das eigene: „Ich bin so viele verstreute Dinge“, ahnt Major Morais, „bin zufrieden darüber, dass ich in mir nichts bin, ich Scheiben, die sich auflösen, eine der Scheiben der rechte Arm, der im Sofa steckt, und gleich darauf keine Scheibe mehr, ich ein Nichts das hört.“

Schließlich überleben die wahren Dinge die Dingmenschen, triumphieren Bügelbrett, Balkon und sogar das Symbol vollendeter Sinnlosigkeit, Morais’ Porzellankästchen, „das zu nichts weiter nützte, als einen Schlüssel zu verwahren, von dem wir nicht wussten, zu welchem Schloss er gehörte.“ Miguèis endet als „Kadaver einer Möwe“, der müde Seabra muss sich an nichts mehr erinnern. Einzig Miguèis’ krebskranke Tochter verlässt das Buch und ihr Leben mit linderen Gedanken, „ich Flamingos, ich Seeschwalben.“ Fast tröstlich klingt die Imagination ihres Todes. Sie sieht die brennende angolanische Fazenda vor sich und daneben die Kaffeeplantage, „auf der es jetzt ja Tag wird.“ Dass es einmal wenigstens tagen wird: mehr Utopie gestattet sich und uns Lobo Antunes nicht.

ALEXANDER KISSLER
 

Artikel erschienen am Sa, 29. Juli 2006

António Lobo Antunes

Geschrei der Kopfstimmen

Miniaturen eines großen Epikers: Das "Buch der Chroniken"

Von Lothar Schmidt-Mühlisch

António Lobo Antunes: Buch der Chroniken. A. d. Portug. v. Maralde Mever-Minnemann. Luchterhand, München. 384 S., 10 EUR.

António Lobo Antunes berichtet von sich, daß er schwerhörig sei wie Beethoven. Und wie dieser lauscht er auf die inneren Stimmen, die in seinem Kopfe sprechen und sich unvermutet zu Wort melden, ob der Dichter nun will oder nicht. Sein Schriftstellerkollege Albert Ostermaier hat dazu geschrieben: "Er hat ein untrügliches Ohr für die Stimmen in seinem Kopf und die Kopfstimmen seiner Figuren, er lauscht in ihre unmerklich zitternden Seelengründe wie ein akustischer Seismograph, hat sein Ohr an ihrem stockenden Kehlkopf, am Puls ihrer Hände, wenn sie lügen, morden oder alles wegwischen, er zeichnet ihre Schreie auf, seien sie stumm oder laut, er hört die Sätze, die ihnen auf der Zunge liegen, bevor sie sie hinunterschlucken zurück in den Rachen, er ist bei ihnen vor der Stille des Todes auf dem Gipfel der Liebe, er hört den Wind, wenn sie mit den Armen sprechen, weil sie keine Worte mehr haben."

Diese inneren Stimmen folgen naturgemäß einer anderen Dramaturgie als die äußere Wirklichkeit. Sie tauchen auf, versinken wieder, sie haben eben noch in der Vergangenheit gesprochen und reden sich plötzlich in die Zukunft hinein, sie wechseln die Identitäten und Charaktere und erklingen plötzlich in einer ganz anderen Melodie. Selten ist das so deutlich geworden wie in jenen 107 Miniaturen, die Lobo Antunes jetzt unter dem Titel "Buch der Chroniken" herausgegeben hat. Die kleinen Texte, die der Arzt und Dichter ursprünglich für eine portugiesische Tageszeitung geschrieben hat, scheinen sich auf den ersten Blick völlig vom großen, gewaltigen, sinfonischen Fluß seiner Romane zu unterscheiden. Lobo Antunes nimmt die kleinen, eher alltäglichen Dinge des Lebens zum Anlaß, um seine Welt und ihre Erscheinungen vorzustellen: Es sind Geschichten über Fußball und Gott, Tarzan und die Buchmesse, Karneval und die Erfahrungen mit der Psychiatrie. Aber merkwürdigerweise erschließt sich aus ihnen, ebenso wie aus seinen Romanen, ein ganzer Kosmos. Irgendeine Nebensächlichkeit wie der Name eines berühmten portugiesischen Fußballtorwarts kippt plötzlich aus seiner festen Verankerung im kindlichen Erinnerungsbuch des Autors heraus, und besagter Fußballheld steht, um Jahre gealtert, unversehens auf einem angolanischen Bolzplatz und wird zu einer Art Sinnbild des dramatischen Verhältnisses zwischen Portugal und seiner alten Kolonie Angola.

Die kleinen Geschichten des Lobo Antunes sind beheimatet im Kopf, im Bewußtsein des Autors, und ihre Existenz ist simultan, ohne Chronologie, von der Phantasie bewegt und letztlich den reinen Empfindungen anheim gegeben. So entsteht eine Welt im Fluß, von der man zu keinem Zeitpunkt eine exakte Zustandsbeschreibung abgeben könnte, weil sich die Stufen der Erfahrung und der Erkenntnis gegenseitig überlagern.

Der Band hebt an mit der Geschichte "Lob der Vorstadt", die uns zurück führt in die Kindheit des Autors in Lissabons Vorstadt Benfica. Eine merkwürdig gegensätzliche Welt, in der das riesige Anwesen der wohlhabenden Familie Lobo Antunes' zwischen Armensiedlungen, Handwerkerniederlassungen und winzigen Geschäften eine fast unwirkliche Existenz führt und in der zum Beispiel das Bestattungsunternehmen mit dem Werbespruch antritt: "Wozu unbedingt weiterleben, wenn Sie für hundert Escudos eine schöne Beerdigung haben können?" Der erwachsene António träumt sich zurück in die unschuldigen Augen des Kindes. Der Erinnerungs-Film läuft hin und zurück zwischen den Hochhäusern, die heute Benfica beherrschen, und der Welt des Schusters, bei dem António die schönsten Stunden seiner Kindheit verbrachte. Das Verblüffende: Plötzlich nimmt der Leser wahr, daß sich auch die moralischen Perspektiven durchdringen, daß sich die Urteile verändern und sich trotzdem mit dem Wandel des Lebens wiederholen. Das Bewußtsein vermag etwas zu leisten, was der Wirklichkeit verwehrt ist: Es kann der Gegenwart sozusagen unter die Röcke schauen und dort die verbliebene Vergangenheit wieder entdecken. "Mehrstöckige Gebäude wurden an der Stelle der Häuser hochgezogen, doch ich habe den Verdacht, daß unter diesen Gebäuden mit fünf, sechs, sieben, acht, neun Stockwerken, irgendwo unter den verglasten Veranden und Bankfilialen, Senhor Paulo noch immer mit Bindfäden und Rohrstöckchen die Flügel der Spatzen richtet."

António Lobo Antunes hat mit seinen Kopfstimmen auch den unermeßlichen Vorteil, die Wirklichkeit nach ihren Möglichkeiten zu vollenden. Er, der fast pathologische Hasser von Verkehrsampeln, erlebt zum Beispiel, wie ihm all das widerfährt, was er befürchtet. Von Ampelstopp zu Ampelstopp gibt er den Figuren, die sein Auto von außen bettelnd bedrängen, Kleidungsstück um Kleidungsstück ab, bis er fast nackt am Steuer sitzt. Da kippen seine Geschichten ins Groteske, stülpen eine Dimension von Ironie über das eigene soziale Gewissen.

Überhaupt spielt das kritische soziale Gewissen der Oberschicht sich selbst gegenüber eine durchaus verunsichernde Rolle in Geschichten. So erzählt er von seiner Familie, die sich anstelle von Haustieren speziell ausgesuchte arme Leute hielt, an denen sie ihre diktatorisch ausgeübte Güte probierte. Aber das hat nun nicht die einfache Dimension einer Gesellschaftskritik, sondern die klingende Mehrstimmigkeit eines schicksalhaften Zusammenlebens. Eine fest gefügte Welt, die halt so ist. Wie sie ist. Lobo Antunes liebt bekanntlich auch die, deren Tun er verachtet.

Der Verlag tut dem Autor eigentlich keinen Gefallen, wenn er mit der Formulierung "Lichtblicke des Lebens, festgehalten mit einem Augenzwinkern" für das Buch wirbt. Natürlich beherrscht der Autor perfekt die Stilmittel von Groteske, Ironie und Sarkasmus. Aber hinter dem scheinbaren Lächeln steht auch in den Miniaturen immer eine schmerzliche Tragik. Wenn Lobo Antunes das Lächeln auf der Fotografie seiner Großmutter küßt, steckt darin auch die ambivalente Melancholie von Vergehen und bleibender Erinnerung. Schmerzvoll im Glück und beglückend im Schmerz.

 

 

 
 T  I  t e  L

  k u l t u r m a g a z i n

   

 

16.08.2007

 

Komm, Gegenwart, erinnere dich

 

Wolfram Schütte

 

Antònio Lobo Antunes: Zweites Buch der Chroniken.
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Sammlung Luchterhand. Luchterhand-Literaturverlag. München 2007.
319 Seiten, Engl. Broschur, 10 ¤

 

Wie schön, dass der Luchterhand Literatur-Verlag nun, in der mit seiner deutschen Präsenz innig verschwisterten Übersetzung von Maralde Meyer-Minnemann, auch den zweiten Band von Kolumnen veröffentlicht hat, die der portugiesische Epiker António Lobo Antunes zwischen 1993/2001 vierzehntäglich in einer portugiesischen Zeitung geschrieben und 2002 gesammelt publiziert hat.

 

Was zu Lobo Antunes´ “Chroniken”, ihrer Form, ihrem Charakter, ihren Schönheiten und Eigenheiten zu sagen ist, habe ich bei der Vorstellung des “Buchs der Chroniken” an dieser Stelle gesagt (“Komm, Erinnerung, sprich“ Titelmagazin, 31.8. 06). Da die nun vorgelegten 78 Kolumnen sich in ihrem Formenreichtum und Stil von den zuvor veröffentlichten nicht unterscheiden und diese nur zeitlich fortsetzen, will ich mich nicht wiederholen, weil ich es sonst müsste. Alles früher daran Bemerkte & Bewunderte trifft hier ebenso zu.
Vielleicht aber tritt in dem “Zweiten Buch” noch mehr als in der ersten “Chronik” der Autor als Reflektor seiner eigenen literarischen Passion hervor, wenn er z.B. eine “Anleitung zum Lesen meiner Bücher” gibt, in der er u.v.a. schreibt: “Das wahre Abenteuer, das ich anbiete, ist eine Reise, welche der Erzähler und der Leser gemeinsam in die Finsternis des Unbewussten, zur Wurzel der menschlichen Natur machen”. Oder wenn er an anderer Stelle (“Antonio 56 ½“) von sich berichtet: “Er hatte so intensiv alles auf das Schreiben gesetzt, jeden Roman genutzt, um den voraufgegangenen auf der Suche nach dem Buch zu korrigieren, das er nie mehr korrigieren würde, dass er sich nicht an die Ereignisse erinnern konnte, die geschehen waren, als er diese Romane schrieb. Diese Intensität und diese Arbeit führten dazu, dass er keinem anderen Einfluss als dem eigenen ausgesetzt war und er außerhalb seiner selbst nichts als Vorbild hatte, obwohl ihn das einsamer machte als eine in einem leeren Hotelzimmer vergessene Jacke, während der Wind und die Enttäuschungen nachts die Rollladen klappern lassen, den niemand geschlossen hatte. Da ihm Traurigkeit fremd war, wusste er, was Verzweiflung ist”.

Das (literarische) Genie, denkt man sich bei der Lektüre vieler dieser “Chroniken”, ist nichts anderes als die ästhetische Organisation der bedrängenden Bilder & Szenen, Gerüche & Worte, die durch eine Vielzahl von Epiphanien (oder proustsche “Madeleines“) aus den abgelagerten Erinnerungsflözen im gespeicherten Gedächtnis des Autors unwillentlich zurück in die Gegenwart gerufen und freigesetzt werden; denn so intensiv leuchten Lobo Antunes´ Erzählungen aus Kindheit und Jugend - und vor allem aus dem ihn traumatisierenden Krieg in Angola - einem oft hier entgegen, als wären sie in der Niederschrift dem erlebten Augenblick wie eine Blaupause abgenommen.
Daneben stehen zarteste Miniaturen ehelichen Alltags (“Wir beide hier hören dem Regen zu”) oder herzbewegen Abschiede: von seiner ersten Frau (“Geh noch nicht in diese dunkle Nacht”) oder von gestorbenen Freunden wie z.B. José Cardoso Pires, dem ihm nächsten & liebsten - wobei das Wunder dieser Freundschaft auch darin bestand, dass Cardoso Pires ein grandioser Whisky-Trinker war, sein Freund António aber Mineralwasser favorisiert - eine Pointe, die der Nachrufer so vieler gemeinsamer Bar-Abende aber verschweigt. Was für eine grandiose Freundschaft!

Hier, in diesen zwei Bänden von “Chroniken” liegt ein Trost- & Schmerzbuch, ein “Stundenbuch” der Liebe und des Todes, des virtuosen Scherzes und des wehmütigen Ernstes, also eine facettenreiche Sammlung von sprachlich & erzählerisch durchkomponierten “Fados” in poetischer Prosa vor, die so unverwechselbar melancholisch und zärtlich ist, wie sie, zumindest in der europäischen Literatur, die bei Lobo Antunes sehr verschwiegen und doch unverkennbar an das mediterran-orientalische Erzählen erinnert, nur von einem Portugiesen geschrieben werden konnte: ebenso radikal wie diskret intim.
Wer ein literarisches Geschenk sucht für einen Menschen, den er liebt, von dem er wünscht, geliebt zu werden oder von dem er Abschied nimmt und dennoch wünscht, von ihm erinnert zu werden: der könnte/müsste/sollte in den beiden “Chroniken” von António Lobo Antunes das richtige, nachhaltige Zeichen seiner Aufmerksamkeit, Zuneigung, Trauer und Freude finden. Allerdings nur dann sind einem solchen Leser diese Taschenbücher adäquat, wenn er sie zwiefach erwirbt: für sich selbst und für den/die Beschenkte(n). Denn ich wette: wer eines auf diese Empfehlung hin zum Verschenken kaufte, gäbe es nicht mehr aus der Hand, wenn er sich erst einmal lesend darin verloren hätte.
 

 

 
 T  I  t e  L

  k u l t u r m a g a z i n

   

 

 

03.01.2008

 

Postume Wiedergutmachung für ein Lebens- & Liebesopfer
 

 

Wolfram Schütte

 

António Lobo Antunes: Leben, auf Papier beschrieben. Briefe aus dem Krieg. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand-Literatur Verlag, München 2007. zahlr. Abb. 527 Seiten, 24.95 Euro.

 

Auf Wunsch seiner ersten Frau und seiner Töchter sind die Liebesbriefe jetzt veröffentlicht worden, die der junge António Lobo Antunes an seine Frau Maria José während seines zweijährigen Frontdienst im Kolonialkrieg Portugals in Angola geschrieben hat. Es war die Inkubationszeit des späteren Schriftstellers, der in der Armee als Chirurg diente.

 

Hat je schon einmal ein Schriftsteller zu seinen Lebzeiten seine Liebesbriefe veröffentlicht? Meines Wissens nicht. António Lobo Antunes hat es jetzt getan, oder besser: erlaubt.

Fünf Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau Maria José, die 2000 gestorben ist, haben die beiden Töchter, die aus dieser sechsjährigen Ehe (1970/76) hervorgegangen sind, die Briefe ediert, die António Lobo Antunes seiner Frau geschrieben hatte, als er zwischen Januar 1971 und März 1973 am portugiesischen Kolonialkrieg in Angola teilnahm. Dreimal wurde die fast tägliche Briefflut des jungen Arztes, dessen Frau Jura studierte und ihr erstes Kind erwartete, als er einberufen wurde, unterbrochen: als António 1971 mehr als einen Monat Heimaturlaub in Lissabon machte; als seine Frau und seine Tochter 1972 nach Marimba in Angola zu ihm gereist waren; und nachdem Maria José eine Hepatitis-Erkrankung in der Hauptstadt Luanda auskuriert hatte und nach Marimba zurückkehrte, wovon sie dann im März 1973 gemeinsam nach Lissabon aufbrachen, wo der junge Arzt als Psychiater fortan in einem Krankenhaus praktizierte.

1976 trennten sich António und Maria José Lobo Antunes. 1983 wurde ihm eine dritte Tochter geboren, aus einer zweiten Ehe, deren Beginn & Ende er in seinen biografischen Daten nicht erwähnt. Erst als er von der tödlichen Krebserkrankung Maria Josés erfuhr, zogen die beiden wieder zusammen und António Lobo Antunes pflegte & begleitete seine erste Ehefrau auf dem Weg in ihren Tod.

Es sei ihr ausdrücklicher Wunsch gewesen (und der seiner beiden Töchter), diese angolanischen “Briefe aus dem Krieg” nach Maria Josés Tod zu veröffentlichen, heißt es im Vorwort des 2005 in Lissabon erschienenen Buches. Es sind fast gleich lange, auf braunem normiertem Luftpostpapier eng beschriebene “Aerogramme”, die kostenlos in die Heimat geflogen wurden, aber die Zensur passierten, der eine Selbstzensur des Schreibenden über grausame Details des Krieges vorausging, so dass die schlimmsten Erfahrungen unerwähnt bleiben, die den jungen Mann traumatisierten und ihn, wie auch seine Eltern berichten, nachhaltig psychisch verändert haben.

Maralde Meyer-Minnemann, deren Kunst der Einfühlung und Übertragung wir so gut wie das Gesamtwerk des 1942 geborenen größten portugiesischen Epikers auf Deutsch verdanken, hat auch dieses Buch aus der literarischen Inkubationszeit des erst Jahre später (1979) als Schriftsteller hervorgetretenen Autors übersetzt. Es ist, dem Original entsprechend, sehr schön aufgemacht und mit Faksimiles und Privatfotos ebenso versehen, wie mit einem Glossar der Töchter und der Übersetzerin.

Akte der Schamlosigkeit oder der Eitelkeit?

“Wie auch immer man die Briefe bezeichnen will“, schreiben die Töchter in ihrem Vorwort, “als Literatur, als Kriegsdokument oder als Liebesgeschichte, sie sind in jeder Hinsicht außergewöhnlich”. Am Außergewöhnlichsten aber ist ihre jetzige Publikation!

Denn diese glühendsten Liebesbeschwörungen eines jungen Mannes von 28 Jahren, der sich in der afrikanischen Fremde vor sinnlicher Sehnsucht und Liebe nach der werdenden 20jährigen Mutter seines ersten Kindes in Lissabon verzehrt, sind wohl das Intimste, was aus dem privatesten Zentrum eines Liebes- & Ehelebens veröffentlicht werden kann. Erst recht, weil den leidenschaftlichen Liebesschwüren in diesen Trennungs-Augenblicken schon vier Jahre später eine radikale Trennung der beiden Liebenden folgte, die über zwei Jahrzehnte währte.

Bisher hatten Kinder, Verwandte oder Erben öffentlicher Personen in aller Regel oft lange gezögert, derartige Privatissima postum zu veröffentlichen. Meist haben sie Jahrzehnte gewartet, und sie dann als historische Dokumente, oft bloß in zensierter Form, publiziert. Andere Erben haben aber sogar solche intimen Hinterlassenschaften vernichtet, um sie einem späteren Einblick zu entziehen. Es ist also ein Unikum und Novum, was den Lesern dieses weltbekannten Autors mit “Leben, auf Papier geschrieben” nun vor Augen kommt.

Ist es ein Akt der Schamlosigkeit, uns Leser dazu aufzufordern, auf eine persönliche Leidenschaft zu blicken, die im Augenblick ihrer Existenz nur den zwei Liebenden im Schriftverkehr gegolten hatte? Ist es ein Akt der Eitelkeit des mittlerweile 65jährigen Schriftstellers - zum einen, weil ja die Briefe seiner geliebten Frau, die seine aufgehoben hat, nicht mitpubliziert wurden, weil sie womöglich von ihm nicht überliefert wurden; zum anderen aber, weil er annoncieren möchte, dass er sich selbst schon zu Lebzeiten “historisch“ geworden ist, oder uns damit “beweisen“ will, dass er schon der große Schriftsteller war, der er heute ist, bevor er auch nur eine Zeile veröffentlicht hatte? Ein Akt der Eitelkeit gar auch der beiden Töchter des berühmten Vaters und seiner abgöttischen Liebe zu ihnen, die er ja schon oft in seinen “Chroniken” erwähnt hatte?

Diese Fragen wird man sich stellen dürfen, wenn nicht sogar müssen. Wenn man aus der Ferne - und nicht aus der portugiesischen Nähe und deren Rumor über Leben, Werk & Person von António Lobo Antunes - auf solche Fragen Antworten sucht, wird man als Kenner & Bewunderer des Autors vorsichtig mutmaßen können: wenn es sich um Akte der “Eitelkeit” handelte, dann zuförderst um die Maria Josés, der Toten, die nach der Trennung von ihrem ersten Ehemann keinen Liebhaber mehr fand oder suchte, die seiner würdig gewesen wäre. Immer wieder, vor allem auch in den “Gesprächen” mit der spanischen “El-Pais”-Journalistin María Luisa Blanco (Sammlung Luchterhand Nr. 2059), hat aber Lobo Antunes davon gesprochen, dass kein Mensch an seiner Seite so sehr an ihn und seine literarische Berufung geglaubt, ihn ermutigt und gefordert habe, wie seine erste Ehefrau, die zwar einen Chirurgen und Psychiater geheiratet hatte, aber wußte & wollte, dass er ein großer Schriftsteller werden sollte.

Seine Briefe aus Angola legen von dieser Behauptung nun authentisches Zeugnis ab. Fortlaufend berichtet er ihr von seinen literarischen Versuchen, schickt ihr (selten) Gedichte, häufig Prosa und fordert von ihr ein strenges Urteil seiner Arbeiten, über deren ästhetischen Wert er sich nicht sicher ist. Einmal schreibt er: “Ich mache das nur für Dich”, öfters “hofft” er, wenn er Erzählungen mehr als zehnmal umgeschrieben hat, “dass es das ist, was es sein soll: etwas Gutes, Neues, das etwas taugt und rechtfertigt, was wir geopfert haben, damit ich schreiben kann (...), dass ich ein Schriftsteller bin, damit sich alles gelohnt hat”.

Wie Maria José aus António den Schriftsteller Lobo Antunes machte

Gelohnt meint in diesem historischen Augenblick die von Maria Jose´ immer wieder angemahnte, begleitete qualvolle Arbeit an “meiner seit 15 Jahren ununterbrochen ausgedrückten Berufung“ zum Schriftsteller, wie er an anderer Stelle schreibt. Das gemeinsame Ziel dieser ebenso intim-erotischen wie engen intellektuell-menschlichen Symbiose zweier physisch getrennter, aber durch ihre Briefe innigst verbundenen jungen Menschen, ist die Erschaffung (und nicht bloß Selbstfindung) des Schriftstellers António Lobo Antunes.

Es ist Maria José, die ihm die Bücher schickt, nach denen er in den “Traurigen Tropen“, in Dreck & Schlamm, in Dschungel und Wüste verlangt; und er schreibt ihr, der einzigen Vertrauten seiner ausgreifenden literarischen Interessen, denen er als Leser in Spanisch, Französisch und Englisch nachgeht, was er von Borges oder Camus hält oder von Le Clézio oder Updike, von Céline oder Cortázar, Graham Greene oder Ernesto Sabato, García Marquez oder Lezema Lima, Cabrera Infante, Saul Bellow, Salinger, Faulkner, Tolstoi oder sogar von Günter Grass´ “Katz und Maus” (übrigens: sehr viel).

Man sieht nun, wie der achtundzwanzigjährige Chirurg, der seinen medizinischen Pflichten in der Armee nachkommt und nicht nur verwundete Soldaten operiert, sondern auch die afrikanische Bevölkerung mit Medikamenten versorgt und Kinder zur Welt bringt, in Angola seine offenbar schon in Lissabon à jour gewesene literarische Kenntnis und Urteilsbildung an den größten, schwierigsten Herausforderungen seine künftigen Konkurrenten fortsetzt & -bildet - immer mit Hilfe seiner zwanzigjährigen Frau, die mit ihm seine literarischen Leidenschaften teilt.

Das zutiefst Tragische und existenziell Herzzerreißende dieser Genese des Schriftstellers António Lobo Antunes besteht jedoch darin, dass er, nach der Rückkehr aus Angola und seiner anschließenden, kursorischen Tätigkeit als Psychiater an einem Krankenhaus in Lissabon, offenbar erst die Liebes-Ehe mit Maria José und seinen zwei Töchtern aufkündigen musste, um schließlich der zu werden, den seine Frau in ihm zu sehen wünschte: Schriftsteller.


Das Lebens- & Liebesopfer für die Literatur

Maria José vor allem & allein war das grausame Opfer, das er der Literatur brachte. Denn mit der Trennung 1976 beginnt er die Arbeit an den kurz hintereinander entstandenen ersten drei Romanen (dt.: ”Elefantengedächtnis”, “Der Judaskuss” und “Einblick in die Hölle”), die 1979/80 erschienen. Mit einer eruptiv-schamlosen Radikalität sondergleichen exponieren und durchkneten sie den persönlichen & privaten Lebensstoff (Angolakrieg, zerbrochene Ehe, Arbeit in der Psychiatrie, Einsamkeit des Schriftstellers). So hatte es auch der von ihm sehr geschätzte Louis Ferdinand Céline in “Der Reise ans Ende der Nacht” getan - ein düsterer Titel, der diesen ersten Zyklus von Romanen des jungen Lobo Antunes treffend charakterisieren würde.

Man konnte das als deutscher Leser erst in den letzten Jahren erkennen und nachvollziehen, nachdem der erste und dritte Roman nachholend übersetzt wurde, und derart das ebenso dichte wie weitläufige autobiografische Unterfutter dieser ersten Romane sichtbar wurde.

Insofern ist der Wunsch Maria Josés (und ihrer Töchter) mit inniger Rührung verständlich, nicht nur als Menschen- & Liebesopfer, das am Beginn von António Lobo Antunes Schriftstellerexistenz stand, postum gewürdigt, sondern auch ihre Liebes- & „Hebammendienste“ bei der Zeugung & Geburt des Schriftstellers erkannt zu sehen.

Wie weit der künftige Prosaist den „barocken“, lyrisch-expressiven, ironischen Stil seiner ersten Bücher schon in Angola entwickelt hatte, offenbart eine große Evokation Lissabons aus dem umfänglichen, aber offenbar verworfenen Roman „Flug“, die er an seine Frau am 25.1. 1972 als Probe seines weiträumigen Periodenbaus schickte: „Lissabon ist voller Statuen von Königsmördern: Büsten mit Carbonarier-Bärten in den öffentlichen Parks inmitten von Bougainvilleen- und Narzissenbeeten; heroische Menschentrauben, die sich, egoistischen Schiffbrüchigen gleich, raufend gegenseitig von den Sockeln drängen wie von engen Flößen; halbnackte Wasserspeier mit Grübchen auf den Hinterbacken, die Gallequalenwasser aus ihren runden Mündern erbrechen und sich, von Übelkeit gequält, zum eigenen Spiegelbild herunterbeugen; einsam, mit Federbüschen bewehrt, zu Pferde, traben sie auf dem Weg zu einer erlösenden Explosion zum Fluss hinunter (im Frack tickt die Zeitbombe); klammern sich mit konvulsivischem Begehren an androgyne Standbilder der Republik; nachts ersinnen sie unter den Platanen Alexandriner und Attentate; (...) rupfen in den Musikakademien mit Gründermonokel Chopin wie einem lebenden Huhn die Achtelnoten aus; in Jahrmarktszelten extrovertierten sie unflätige Gesten; ruckeln auf den parkinsonschen Traggerüsten der Prozessionen; feiern, in der allerhöchsten Eleganz der Sandeman-Reklame, das Glas in der Faust, den Tod eines möglichen Erben“.

Rund zwei Monate später widmet er einen Brief an seine „geliebte Liebste“ ganz und gar den literarischen Ambitionen, wobei sehr signifikant das gemeinsame literarische Projekt im ganz selbstverständlichen Wechsel von „wir“ & „ich“ hervortritt – als schreibe Sherlock Holmes an seinen Dr. Watson: „Man liest die anderen, gerühmten und hochgelobten Typen und beginnt davon überzeugt zu sein, dass, ganz ohne Gefälligkeiten, was wir schreiben, viel besser ist. Diese Südamerikaner, die unter bestimmten Aspekten parallel zu mir verlaufen, sind alle schlechter als ich. Und wir lesen die Typen aus anderen Ländern und sehen, dass wir noch bessere Karten im Ärmel haben als sie.(...)“.

Zwei Tage später berichtet er von der „riesigen Enttäuschung“, als er Albert Camus´ “Pest“, die er mit 16 Jahren „verblüfft und begeistert“ gelesen hatte, nun beim zweiten Lesen „ärgerlich und langweilig fand. Tatsache ist, dass dieser großzügige, intelligente und ehrliche Mann mit seinen naturalistischen Lyrismen und seinen sonnigen Absurditäten ungeheuer gealtert ist“, so dass dem 29jährigen portugiesischen Schriftsteller in seiner Aufbauphase jetzt „Die Pest“ als „ein allzu schematisches Machwerk voller naivem, mit guten Absichten gespickten Humanismus erscheint“. Und im Vorgriff auf Romane, die er erst in den Neunziger Jahren schreiben wird, spricht er hier in Angola 1972 schon davon, „dass Literatur ein Fest der Worte, eine panische Feier (im griechischen Sinne), ein heidnisches Fest sein sollte und die Figuren einfache Stimmen, die singend oder wispernd durch die Seiten gleiten“ (Kursivierung von mir).

Ebenso signifikant für seine Positionierung in der Literatur der Moderne ist auch seine Bemerkung, wonach er (bei der Lektüre großer „Konkurrenten“ wie Cabrera Infantes „Drei traurigen Tigern“ oder Lezama Limas „Paradiso“) „seltsamerweise die Illusion hatte, in Büchern von anderen Gedanken und Prozesse zu finden, die mit meinen übereinstimmten, was bislang aber nicht der Fall war – und ich bin mir immer sicherer, dass dies nie geschehen wird. Das wäre eine Bestätigung, dass ich auf einem guten Weg bin (...) Ich warte weiterhin auf die werten Anweisungen der Gnädigsten, die entscheiden möge, was ich tun soll“. Mit Maria Josés lektorierender Hilfe will er etwas schreiben, was keiner vor oder neben ihm bisher konnte. Einzig das ist ihm Rechtfertigung dafür, überhaupt zu schreiben – bis heute!

Krieg in Afrika als Paradies & Hölle

Der Blick auf die literarische Genese des António Lobo Antunes ist ein Aspekt, den man als „nachlesender“ Voyeur diesen Briefen entnehmen kann. Ein anderer, wie sich der junge Mann langsam der Lebensangst im Krieg akklimatisiert, oder besser: wie er diese verdrängt durch Apathie, die Lektüre von Zeitschriften und Büchern und seine eigene literarische Tätigkeit, in die er in den langen Phasen des Wartens, des Nichtstuns immer öfter „abtaucht“, wenngleich er über die Qualität dieser Arbeiten höchst unsicher ist.

Einen großen Raum nehmen in den fast täglichen Berichten aber auch die exstatischen Schilderungen der befremdlichen Schönheit der Landschaft ein - und Klagen über gewaltige Gewitter, sintflutartige, tagelange Regenfälle und ein reduziertes Leben in Hunger, Dreck und in Moskitoschwärmen. Mehrfach erwähnt der von Durchfällen geplagte Arzt auch die Angst vor der Cholera, die katastrophale Versorgungslage der Truppen, die von einem technisch überlegenen Feind in die Enge getrieben werden und als verlorener Haufen längst den Glauben an seine (sinn- & erfolglose) militärische Präsenz in der Weite Angolas verloren hat. Fieberhaft berechnet er auch immer wieder seinen Sold, um die materielle Existenz seiner jungen, studierenden Frau zu sichern, die er ermahnt, ihre Prüfungen zu machen, während sie eine Wohnung für die Familie sucht und er afrikanische Kunstgegenstände dafür erwirbt.

Aber natürlich sind das zuerst und zuletzt: Liebesbriefe, Sehnsuchtsbriefe eines werdenden Vaters, der seine „beiden Frauen“ in der stumpfsinnigen „Hölle“ entbehrt, um Bilder bittet & bettelt, und seiner „geliebten Liebsten“, dem „lieben Schatz“ mal um mal „Millionen und Abermillionen Küsse von Deinem Mann, der Dich anbetet“, schickt und immer wieder versichert, dass er „alles an Dir mag“. Das rituelle Ostinato dieser Briefe steigert sich bis zu der Versicherung: „Du bist die Frau meines Lebens. Und soviel ich auch darüber nachdenke, es gibt keine andere Lösung: ich bleibe bis zum Ende der Welt mit Dir zusammen“.

Zum Ende der Welt Maria Josés waren die Getrennten wieder mit sich allein und zusammen. Dazwischen aber mehr als zwei Jahrzehnte getrennt und jeder für sich allein: António Lobo Antunes in der Flaubertschen Einsamkeit beim Lauschen auf das Wispern & Schreien, Wehklagen & Verstummen der körperlosen Stimmen, mit deren Aufzeichnungen er die Welt seiner einzigartigen Romane zu einem „Fest der Sprache“ auftürmte; und Maria José mit dem Schatz der Briefe, die ihre einzige & einstige Liebe versiegelte. Deren letzter vom 30.1. 1973 endet in ahnungsloser Trostlosigkeit mit den Worten: “Meine Liebste, meine einzige, große Liebe! Ich bete Dich über meine Rauheit und meine fehlende Zärtlichkeit hinaus an, verzweifelt...
António“.
 

N Z Z  Online

 

22. September 2007, Neue Zürcher Zeitung

Afrika, das Gras und die Zeit

António Lobo Antunes als Chronist eines untergehenden Portugal

Seit Jahren ist António Lobo Antunes einer der erfolgreichsten portugiesischen Schriftsteller. 1942 geboren, gehörte er zu jenen Jahrgängen, die seit den frühen 1960er Jahren nach Westafrika geschickt wurden, um dort die portugiesischen Kolonien zu verteidigen. Dieser absurde Krieg wurde zur zentralen Erfahrung seiner Generation.


Von Kersten Knipp

 

Die Bücher von António Lobo Antunes erscheinen auf Deutsch bei Luchterhand, München. Letzte Publikation: Leben, auf Papier beschrieben. Briefe aus dem Krieg. Hrsg. von Maria José und Joana Lobo Antunes. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. 500 S., zahlreiche Fotos; Fr. 43.70.

 

Die Geschichte beginnt vor über einem halben Jahrtausend bei günstigen Winden. Zentralruder, Kompass und Kurskarte sind erfunden; europäische Seefahrer, allen voran Italiener, Spanier und Portugiesen, wagen sich tief in die atlantischen Gewässer. Bald sind die Kanarischen Inseln, Madeira und die Azoren entdeckt, nun segeln die Karavellen gen Süden, entlang der afrikanischen Westküste, immer weiter, immer weiter Richtung Äquator. Erst erreichen sie das heutige Mauretanien, dann Senegal, gegen Ende des Jahrhunderts Gabon, Zaire und schliesslich Angola.

Armut, Elend, Müll

Dort, in der Hauptstadt Luanda, trifft im Januar 1971 ein junger Militärarzt ein. 28 Jahre ist er alt, frisch verheiratet und vor kurzem Vater geworden. Freiwillig ist er nicht hier. Und gewöhnen an die neue Umgebung mag er sich auch nicht:

Was für eine grauenhafte Stadt. Es ist so, als würde man einen Sonntag im Strassencafé Estrela Brilhante verbringen, dessen Boden von Lupinenkernen und Müll übersät ist. Ein paar verletzte Schwarze schleppen sich herum, ohne zu betteln, andere bieten Holzaschenbecher, geschnitzte Gegenstände an, Zeitungen, Lumpen und Elend. Ich hätte nie gedacht, hier so viel Armut, so viel Müll, so viel Hitze vorzufinden. Aber alles ist teuer, glühend heiss und hässlich. Die Neger schauen uns mit der Neugier von Verschwörern an. Die Mücken lassen mich nachts nicht schlafen. Und alle sagen, wir hätten mit der Zone, in die wir gehen werden, riesiges Pech gehabt.

Der Müll, die Hitze, die Armut. Drastisch und direkt schildert der Militärarzt Antonio Lobo Antunes seiner damaligen Frau die Verhältnisse während der letzten Jahre des angolanischen Befreiungskampfes gegen die portugiesische Vorherrschaft. Lange Jahre hat der Dichter die Briefe nicht veröffentlichen wollen, zuletzt hat er sich doch dazu entschieden. Im Herbst werden sie auch auf Deutsch erscheinen. Mindestens ebenso viel wie über Lobo Antunes selbst erzählen sie über den gewaltigen Krieg, in den sich Portugal in jener Zeit verstrickt hat. Denn nicht nur die Angolaner kämpfen in den sechziger und siebziger Jahren um die Unabhängigkeit von der portugiesischen Kolonialmacht, auch Moçambique und Guinea-Bissau haben sich gegen sie erhoben.

So sieht sich das kleine Portugal, ökonomisch schon damals Schlusslicht des westlichen Europa, gleich an drei Fronten gezwungen – und das auf einem fremden Kontinent. Ein Rückzug wäre die einzig vernünftige Entscheidung, aber António de Oliveira Salazar, von 1951 bis 1968 Portugals unumschränkter Herrscher, will davon nichts wissen, auf den Rat weitsichtiger Generäle nicht hören. So mobilisiert das Land seine letzten Kräfte, schickt seine jungen Männer in Heerscharen nach Afrika: 80 000 Portugiesen leisten in den frühen 1970ern in den drei Kolonien Dienst, dazu noch einmal genauso viele schwarze Soldaten. Nützen wird die gewaltige Anstrengung am Ende nicht: Im Sommer 1974 erklärt sich Guinea unabhängig, im Sommer des folgenden Jahres Moçambique, im Herbst dann endlich auch Angola; mit ihnen erlangen auch die Kapverdischen Inseln und São Tomé und Príncipe ihre Eigenständigkeit. Doch zu dieser Zeit ist Lobo Antunes schon wieder in Portugal. Aber kann man auch sagen: Er ist wieder zu Hause?

Liebe Als Kriegsopfer

Die Psychologie ist in der Literaturwissenschaft eine umstrittene Disziplin. Aber wenn man gegen alle dekonstruktivistischen Theorien annimmt, dass Literatur nicht nur von Sprache, sondern auch vom Leben handelt – dann scheint es, als sei für den heimkehrenden Dichter die Heimat zumindest zu Teilen, vielleicht sogar zu grossen Teilen, eine andere geworden. Das liegt nicht nur an seinen Kriegserfahrungen, die ihn persönlich wie künstlerisch auf immer prägen werden. Auch Portugal selbst hat sich verändert. Wichtigster Indikator: die Trennung von seiner Frau María José, genannt «Zé». Einst die grosse Liebe, eine Liebe, die – Portugal hat eine grosse maritime Tradition – am Strand begann, wie Lobo Antunes gerne berichtet. Zügig führte sie von dort in Richtung Ehe, der bald eine Tochter entsprang. Doch irgendwann nach der Rückkehr aus Afrika und der unmittelbar sich daran anschliessenden Nelkenrevolution trennt sich der Dichter von seiner Frau. «Der Grund für die Trennung war vollkommen blödsinnig», wird er Jahre später berichten. «Ich habe mich ganz sicher von ihr getrennt, weil das Mode war, alle machten das. Nach der Revolution haben sich viele getrennt, bestimmt weil sie nicht richtig mit der Freiheit umgehen konnten.»

Die grosse Freiheit vom April 1974. Die Revolution räumte auf mit der Diktatur des Estado Novo und gab dem Land den lang blockierten Weg in Richtung Zukunft frei. Doch zu viel Zukunft ist auch nicht gut: Sie lässt der Vergangenheit keinen Raum, will vor allem von der Erinnerung nichts wissen. Als «kollektive Amnesie» wird Lobo Antunes später jene Zeit beschreiben, bestimmt durch den fehlenden Willen, der jüngsten Vergangenheit zu gedenken, der Unterdrückung im eigenen Land wie auch des Unrechts, das Portugal seinen afrikanischen Kolonien zugefügt hatte. Gut möglich, dass der Dichter, der nicht vergessen wollte, darüber zum Chronisten wurde, fortan jenen seine Stimme lieh, die selbst nicht darüber sprechen und noch viel weniger schreiben konnten. Und indem er das tat, regte er die psychologisierende Literaturbetrachtung erst an.

Denn ganz gleich, welche Romane von Lobo Antunes man gelesen hat, irgendwann stellt sich unumgänglich eine Frage: Wie hält es der Dichter selbst mit der finsteren Weltsicht, die er in seinen Romanen wieder und wieder beschreibt? Ist auch er befangen in jener Depression, jener Bitternis und Traurigkeit, die so viele Protagonisten seiner Romane ereilt?

Emotion und Literatur

António Lobo Antunes, schreibt die Literaturwissenschafterin Maria Alzira Seixa, die seinem Werk so gründliche wie umfangreiche Studien gewidmet hat, lege seinen Büchern eine Stimmung, eine Empfindung, ein Gefühl zugrunde. Diese Energien müssten nicht seine eigenen sein, vielmehr nehme er sie auf, entwickle sie und deute sie aus – und zwar so lange, bis sie Eigendynamik gewonnen hätten, eine psychologische Tönung abstrahlten, in deren Licht dann die ganze fiktionale Welt erstrahle. Alzira Seixa gebraucht in diesem Zusammenhang das Wort «assumir», «annehmen, auf sich nehmen» – und ist damit eine Spur diskreter als Fernando Pessoa, der in einem seiner berühmtesten Gedichte, «Autopsicografia», das Verb «fingir», «fingieren» gebraucht – und damit jene Selbstsuggestion meint, in die der Dichter sich versetze, um poetische Effekte zu erzielen.

Dass es sich bei Lobo Antunes dennoch ähnlich verhalten könnte, legt er selber nahe. «Die Gefühle sind vor den Worten da», erklärte er in der langen Reihe von Interviews, die er der Journalistin María Luisa Blanco gab. «Die Herausforderung liegt darin, diese Gefühle zu übersetzen, zu versuchen, dass die Worte diese Gefühle .» Verhält es sich so, dann wäre Lobo Antunes zunächst weniger Chronist als Beschwörer, ein Zauberer, dessen Formeln Gefühle herbeizwingen, sie plastisch und erfahrbar machen, eine Ahnung davon vermitteln, wie es ist, wenn sich der Kummer auf die Seele legt.

In der einfühlsamen Beschreibung lähmender Traurigkeit sind seine Bücher durchaus zeitlos. Aber zugleich evozieren sie eine ganz spezifische Traurigkeit, den Kummer einer bestimmten Generation – jener nämlich, der auch er selbst angehört. Lobo Antunes wurde 1942 geboren, also recht genau in der Mitte der Zeitspanne zwischen 1930 und 1950. In ihr kamen all jene zur Welt, die seit den frühen 1960er Jahren auf die afrikanischen Schlachtfelder geschickt wurden. Statistisch gesehen forderte der Krieg einen mittleren Blutzoll: Zwischen 1961 und 1973 starben in den drei Ländern jährlich knapp 400 Soldaten – vergleichsweise wenig gegenüber jenen knapp 60 000 amerikanischen Soldaten, die im fast zeitgleich tobenden Vietnamkrieg umkamen.

Und doch umfasste der Verband der portugiesischen Kriegsversehrten Mitte der 1990er Jahre noch gut 13 000 Mitglieder. Zu ihnen gehören nicht nur die körperlich Verstümmelten, die Amputierten, Erblindeten und Ertaubten; sondern auch die «geistig Verwirrten», jene also, die die Schrecken des Krieges nicht auf Abstand halten konnten, die an den Traumata zerbrachen, deren Weltsicht so gründlich zerbrach, dass sie sich eine neue nicht wieder zusammenzufügen vermochten.

Volksmythologie

«As armas e os Barões assinalados», «die Waffen und der Herrn erlauchte Scharen», so konnte Luis de Camões in seinen «Lusiaden» die Abenteurer noch besingen. Doch das ist lange her, und entsprechend wenig blieb übrig vom hohen Ton des patriotischen Gesangs. In Lobo Antunes' Roman «Die Karavellen kehren zurück» trifft man die von Camões besungenen Scharen wieder, allerdings sind sie nicht mehr ganz so erlaucht, wie das Epos es beschrieb. Zurück kehren Gescheiterte und Wahnsinnige – allen voran der berühmte Dom Sebastião, jener schon zu Lebzeiten aus der Zeit gefallene portugiesische Herrscher, der es noch Ende des 16. Jahrhunderts für angemessen hielt, einen Kreuzzug gegen den Islam zu führen. Tatsächlich konnte der aus einem Inzest hervorgegangene und als schwachsinnig erachtete König ein hinreichendes Truppenkontingent ausheben, das in Marokko aber vernichtend geschlagen wurde. König Sebastian selbst kam bei dem Abenteuer ums Leben, sein Leichnam wurde nie gefunden. Sein Verschwinden erregte die nationale Neugier und entfachte einen Mythos, der den König zum «Desejado», zum «Ersehnten», adelte, dessen als möglich erklärte Rückkehr in der Volksmythologie fortan ein neues Zeitalter verhiess.

Ein Schwachkopf an der Spitze des Staates – so sahen es viele Portugiesen auch in den sechziger, siebziger Jahren, zumindest im Hinblick auf die Kolonialkriege. «Niemand hatte Lust zu sterben», so brachte der Kommandant Carlos Fabião, später einer der Akteure der Nelkenrevolution, die Haltung der Bevölkerung zu den Kolonialkriegen auf den Punkt. Aber die Bevölkerung wurde nicht gefragt. Die Rekruten wurden verheizt, ist in Lobo Antunes' Roman «Der Judaskuss» zu lesen: «Einer nach dem anderen, man berührte einen Draht, stolperte, eine Granate sprang hoch, teilte uns in zwei, peng!, der Sanitäter auf dem Pfad sah verblüfft auf die eigenen Eingeweide in seinen Händen, gelbes, fettes, ekelhaftes, warmes Zeug.» Überlebt man dergleichen, vergisst man es nicht. Immer wieder hat Lobo Antunes den Krieg beschrieben, einen Krieg, von dem er privat nicht reden will. Zu furchtbar sei er gewesen, so pflegt er in Interviews Fragen nach seinen entsprechenden Erlebnissen abzublocken. Afrika, kann man sagen, ist der Schrecken, der sich durch seine Bücher zieht.

Auf der anderen Seite, und das ist in literarischer Hinsicht vielleicht bedeutender, gilt auch dieses: Dem Schwarzen Kontinent verdankt sich die Aura, die spezifische Schönheit von Lobo Antunes' Büchern. «Für mich, für meine Romane», resümiert Lobo Antunes seine ästhetische Wahrnehmung der Region, «war das Zeitgefühl wichtig, das ich dort gelernt habe. In Afrika gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, nur die immense Gegenwart, die alles umfasst.» Gut möglich, dass in dieser Erfahrung der entscheidende Schlüssel zum Werk des Portugiesen liegt. Denn nichts hindert einen, seinen sich an den kleinen Dingen, zunächst oft abstossend wirkenden Objekten reibenden Erzählstil als Suche nach Halt und Orientierung zu deuten. Die Dinge existieren, sie werden weiter existieren und erweisen sich als Fixpunkt im Sturm der Zeit.

Die Zeit und das Gras

Am deutlichsten hat Lobo Antunes dies in Afrika erfahren. Denn dort, ausgerechnet dort, halten sich die Dinge, wirken beinahe ewig, und das trotz dem grossen Sterben auf dem Kontinent, während des Kolonialkriegs ebenso wie davor und danach. Vielleicht kann man dieses Sterben aufheben oder zumindest aufzuheben suchen, ausblenden in der Form, der Struktur der Erzählung selbst, auch durch die Konzentration auf die Dinge? Vielleicht ergäbe sich, angesichts des täglich heranpreschenden Todes, daraus sogar ein gewisser Trost? Auf jeden Fall ist es ein schöner Gedanke: sich vorzustellen, man könnte die Zeit auch anders erfahren denn als täglich neuen Fall in die Vergangenheit, in jenen Graben, aus dem nichts jemals wiederkehrt. Er selbst, bekennt Lobo Antunes, leide sehr an der Vorstellung, «dass die Zeit immer knapper wird. Ich denke ständig, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt.»

Und vielleicht sind seine Romane auch ein Versuch, die Zeit auszuhebeln, ihren Lauf aufzuhalten, die Chronologie wenigstens auf dem Papier ausser Kraft zu setzen? So absurd es klingt: Keine Kulisse bietet sich diesem Anliegen besser an als die afrikanischen killing fields, jene poetisch in Rhythmus gebrachten Schlachtfelder, auf denen neben dem Sterben doch auch das Leben zu Hause ist:

Afrika, das sind keine Menschen, das ist hohes Gras, Brandrodungen und hohes Gras, Busch und hohes Gras, die Gräber der Siedler mit den Holzkreuzen und ihren mit dem Taschenmesser eingeritzten Daten . . . und hohes Gras, Ölplattformen und hohes Gras, die Verkrüppelten hohes Gras, die Musseques hohes Gras, die Verstorbenen hohes Gras.

Fällt man, wenn man diese Stellen als Hymnen auf das Leben deutet, der eigenen Wahrnehmung zum Opfer, exotisch gestimmter Überspanntheit? Vielleicht; vielleicht auch nicht. Gut möglich, dass Passagen wie diese mit ihrem lyrischen Potenzial eine versteckte Hommage an die Ewigkeit sind. Die Menschen kämpfen und sterben – was sich hält, ist die Natur. Dann scheint es, als gäbe die Erfahrung dem Erzähler wenigstens etwas Halt gegen die deprimierende Gewissheit der unerbittlich voranschreitenden Jahre, die schliesslich auch ihn vernichten werden: «Die Zukunft tauchte vor ihm als ein dunkler Abfluss auf, der darauf wartete, seinen Körper in den rostigen Rachen zu saugen, ein Weg, der kopfüber, kopfunter von einem Siel zum anderen hin zum Meer des unheilbaren Alters führte.» Es sind solche Gedanken, vor denen Lobo Antunes' Protagonisten auf Ewigkeit hoffen.

Man hat Lobo Antunes einen Pessimisten, einen Anti-Utopisten genannt. Das trifft zu, jedenfalls vordergründig. Dahinter kann sich aber der Glaube an ästhetische Erlösung auftun, an Erlösung von der Zeit durch die Unterminierung ihrer Ordnung. Das mag eine zuletzt vergebliche Hoffnung sein, eine Utopie eben. Aber sie hat den Vorteil, sich zumindest gedanklich durchspielen zu lassen. Und das schafft nicht nur Raum für kleine Freiheiten. Es führt António Lobo Antunes auch zurück zu jener portugiesischen Erlösungstradition, die darin besteht, Utopien auf die Erde zwingen zu wollen. Das ist, man denke an König Sebastian oder das Kolonialzeitalter, immer nur für begrenzte Zeit möglich gewesen. Aber diese Zeit hat gereicht, Hoffnungen zu wecken. Und wenn sie scheiterten, verwandelten sie sich in Literatur. Dort überdauern sie und zeugen von jenen Rhythmen des Hoffens und Verzweifelns, die das Leben und noch mehr die Literatur ausmachen. Vor allem, aber keineswegs ausschliesslich, in Portugal.

 

N Z Z  Online

 

17. Juni 2009, Neue Zürcher Zeitung

Aus der Tiefe der Hölle

António Lobo Antunes beschwört die Geister der Diktatur

 

Uwe Stolzmann

 

António Lobo Antunes: Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand-

 

Jedes Jahr publiziert der Mann einen neuen Roman, doch die Feststellung trifft es nicht ganz. Denn eigentlich schreibt António Lobo Antunes lediglich den einen grossen Roman fort, das Epos seines Lebens. Die Themen und Motive des Portugiesen sind häufig genannt worden: Verlustangst und Versagensangst, Pein und Schuld (der Mann war Psychiater), der Krieg in Angola (er war dort als Militärarzt) und daheim die Diktatur, der Putsch von 1974, die Revolution. Dazu die Narben, die jene Diktatur hinterlassen hat, zerrüttete Biografien, zerstörte Familien und Entstellungen, unsichtbar, am Körper der schönen neuen Gesellschaft. An ein paar Eigenarten des Werks sei erinnert: wie es erratisch und einsam in der Landschaft steht, überwältigend, zugleich etwas unheimlich. An den immer neuen, immer gleichen Chor anonymer Stimmen, eine Kakofonie aus Höllentiefen, Geheul unerlöster Seelen. Die Monologe hetzen einander, sie überlagern sich, wer spricht da eigentlich? Der Autor errichtet weitere Barrikaden vor jeder Story, er verbaut raschen Zugang – mit wilder Interpunktion (Sätze über zwei Dutzend Seiten), mit doppeldeutiger Grammatik und durch das Sprunghafte jedes Textes. Da ist kein Erzählfluss, eher ein Katarakt. Der Meister hat die Abschweifung, auch die penetrante Wiederholung von Gedankenfetzen zum bestimmenden Stilprinzip veredelt. Und der neue Antunes ist in diesem Sinne ganz der alte.

Fort und Foltergefängnis

Wenn sich aus den gut fünfhundert Seiten des Romans «Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen» eine Geschichte destillieren lässt, dann etwa diese: Ein paar Menschen (zirka acht) durchleiden eine schlaflose Nacht, Frauen und Männer, alt geworden, jeder allein, in Lissabon und Peniche am Atlantik (Peniche, das Fischerdorf mit dem Fort, dem ehemaligen Foltergefängnis), in Évora und Estremoz fern im Alentejo. Sie werden von Erinnerungen gequält, sie denken an sadistische Grausamkeiten und an jenes Familienglück, das sie immer ersehnten und nie erfahren haben.

Die Hauptperson ist ein namenloser Ex-Polizist des Salazar-Regimes, Geheimdienstler, ein Pide-Agent. Seine Mutter starb, als er drei oder vier war, ein Trauma: Der Mann sieht noch immer die «Typen» am Sarg, die «an den Schrauben drehten und ihr Gesicht zermalmten». Als Polizist – im Kampf gegen den «gottlosen Kommunismus» – hat der Namenlose Schreckliches getan (schrecklich, selbst nach den Normen der Pide, die ihre Widersacher wie Ungeziefer zertrat): Er denunzierte einen Kollegen als Feind des Systems. Warum? Weil er dessen Frau begehrte. Und aus freudianisch verdrehter Rache für den «Verrat» der eigenen Mutter, ihren frühen Tod. Er verhörte den Freund, den Kollegen. Er zwang ihn, die Kleider der Ehefrau anzulegen (auch Ohrringe, Make-up, «nun mal dalli»), und hat ihn gefoltert, bis er starb. Heute, in dieser Nacht Jahrzehnte nach dem Fall der Diktatur, dringen andere Ex-Agenten, alte Männer, Geheimdienstmumien, in das Haus des Mörders, um den Mord zu sühnen. «Ein Hammer, der einen Nagel in den Nacken treibt» – so wurden seinerzeit Kälber getötet und (laut Antunes) politische Gefangene; so wird wohl auch der Pide-Mann sterben.

Sinnvollerweise liest man dieses Buch gleich zweimal. Verblüffend: Die doppelte Lektüre schärft den Blick für Schönheit und Struktur des Werks, auch für das Personal. Plötzlich erkennt man die Komposition. Man durchschaut, wie feinteilig der Meister arbeitete, die Fülle an Verweisen – Vor- und Rückgriffe, Erinnerungsschübe und jähe Seitenblicke auf Szenen voller Rohheit und Poesie. Hinter jeder Anspielung steckt eine komplexe Geschichte, doch jede Geschichte (von einer Figur erzählt, vielleicht auch erfunden) ist nur unter Vorbehalt wahr.

Hier sprechen Tote

Und die Figuren, nein, das sind keine Menschen, Gespenster sind es, die Opfer und die Täter, Gestalten aus der Geisterbahn einer grässlich fortdauernden Vergangenheit. (Die Täter leugnen das Gestern, «vergessen Sie uns, vergessen Sie Peniche, das Fort, die Schreie, und was für Schreie überhaupt, das bilden Sie sich ein».) Endlich bemerkt man: Hier sprechen Tote. Der einzig Lebendige in diesem Gruselkabinett ist ein Mann, der erst spät auftaucht. Die Gestalten reden mit ihm. («Ihr Buch fast zu Ende, denn es ist Tag, räumen Sie das Papier, den Kugelschreiber weg und heben Sie die Augenbrauen vom Tisch, an dem Sie krumm auf dem Stuhl die Buchstaben malen, vier Uhr morgens, Gott sei Dank, fast fünf, nun ist Schluss . . .»). Es sind seine Gespenster, im Roman wie im Leben. «Ihr Name?», fragt eine Stimme. «António», erwidert der Mann, «António Lobo Antunes.»

 

 

 

 

08.10.2007

António Lobo Antunes: ''Leben, auf Papier beschrieben'' Zwei Oktopusse

Von Alex Rühle
 

"Du bist mein Brasilien, vergiss nie, dass ich alles alles alles an Dir mag":

Der Portugiese António Lobo Antunes schrieb aus dem Angolakrieg hinreißende Briefe an seine Frau.

Luma-Cassai, Cuito Cuanavale, Narriquinha - am Ende der Welt liegen klangvolle Orte. Die Natur ist hier von geradezu aggressiver Üppigkeit, "sogar die Insekten, die ich in unendlich vielen Farben und Größen gesehen habe. Im Dunkeln bewegen sich immer tausende Chitinflügel, und die Nacht wogt vor Geräuschen; die Erde ist leuchtend rot, ziegelfarben, die Gräser tiefgrün, die Haut der Menschen von einem sehr dunklen Braun, und ihre Augen scheinen keine Pupillen zu haben oder nur Pupillen zu sein, glänzend wie Linsen aus Gelatine."

Von Januar 1971 bis März 1973 war António Lobo Antunes als Militärarzt in Angola, fast täglich schrieb er in diesen 27 Monaten an seine junge Frau, die zu der Zeit in Lissabon ihr Medizinexamen machte. Die beiden hatten sich 1966 am Strand von Lissabon kennengelernt, sie hatten zwei kleine Töchter, nun sitzt der angehende Psychiater am Ende der Welt, in der hintersten Provinz der südlichsten portugiesischen Kolonie, 9600 Kilometer von Lissabon entfernt, muss in einem sinnlosen Krieg kämpfen, merkt an den langen Abenden, wie in ihm der Schriftsteller erwacht und schreibt Briefe, die ihm unter der Hand zu einer großen Kriegsreportage, einem Buch über die Liebe und einem philosophischen Werkstattbericht geraten: "Tatsächlich lebt man zweimal, in dem Augenblick, in dem man etwas erlebt, und später, und wirklich wichtig sind diese kleinen Lichter auf dem Grund der Erinnerung."

Seltsam schön

Die kleinen Lichter: Die zwei Jahre in Angola wurden zu einem dunklen Hintergrundleuchten in António Lobo Antunes’ Leben und Werk. Anders als bei Claude Simon gibt es nicht die eine traumatisch erlebte Schlacht als Urszene, um die sein Werk wachsen sollte, aber in all seinen Romanen tauchen Erfahrungen, Erinnerungsfetzen, Verliererfiguren aus diesem Krieg auf, ja die Erinnerungen an Portugals verdrängten, dreckigen Krieg um die Kolonien sind das schwarze Kraftzentrum seiner Romane.

Hier in Angola, in der geradezu schrill fruchtbaren Natur der Tropen wird aus dem 29-jährigen Arzt und sporadischen Schreiber der Autor Lobo Antunes. Die Texte überkommen ihn, er fängt "mit unglaublicher Leichtigkeit" eine neue Geschichte an, die ihm unter der Hand zu einem ersten Roman gerät und wilder zu wuchern scheint als der Urwald um ihn her, er beschreibt das nicht narzisstisch, sondern staunend, als schreibe da jemand anderes aus ihm.

Besonders interessant sind hier die Reflexionen über die richtige Art wahrzunehmen, verblüfft sieht er sich dabei zu, wie er zu einem Aufnahmegerät wird, das alles registriert: "Die Hütten, ein paar Häuser auf Pfählen, der Mais, die lockeren Tücher, mit denen sich die Frauen kleiden, die ungeheure Menge von Kindern, die fabelhaften Figuren der Männer, alles ist trotz der Armut und des Elends seltsam schön und stimulierend. Ich weiß nicht, wieso, aber der Kasernenhof erinnert mich sonntags immer an den Hyde Park."

Über sich selbst berichtet er ähnlich neugierig, interessiert, beobachtend: der Krieg verändere ihn, er tue plötzlich grausame Dinge, gestern habe er ein ganzes Rudel von Hunden erschossen. Und immer wieder begibt er sich gezielt in Todesgefahr, "weil ich mich selber überwinden und den Rest von Angst ablegen muss, der mich noch verfolgt. Es ist nichts Heroisches daran, es handelt sich nur um die letzte Etappe, um mir vor mir selber Respekt zu verschaffen". Dann wieder versucht er, seine Frau in Sicherheit zu wiegen, indem er den Krieg als alberne Posse bezeichnet: gestern habe die MPLA im Radio alle portugiesischen Soldaten zum Tode verurteilt.

"Sein eigenes Todesurteil in makellosem Portugiesisch zu hören, ist äußerst merkwürdig. Wenn dies nicht lächerlich wäre, würde ich es dir nicht erzählen. Außerdem können die Kerle überhaupt nicht zielen, was also das Problem mit der Wohnung betrifft, so löse es, wie Du es für richtig hältst und in der Gewissheit, dass ich dort viele Jahre leben werde." Wunderbar, wie er hier innerhalb eines Satzes, mithilfe eines schmalen Kommas, das er nutzt wie ein Stabhochspringer, aus seiner Dschungelwüstenei in die Innenstadt Lissabons springt, in der seine Frau eine Wohnung für die junge Familie einrichtet.

Ganze Wohnblöcke erzittern

Um Wochen versetzt schreiben die beiden aneinander vorbei, Lissabonner Alltag und angolanische Grausamkeiten gehen ineinander über, Familiennickligkeiten und schrullige Tanten, Geldsorgen, Hubschraubereinsätze, Operationen in Minenfeldern: "Das ist das Ende der Welt: Sümpfe und Sand."

Vor allem aber verzehrt sich Lobo Antunes nach seiner Frau, schöner als in diesen Briefen kann man Lust kaum sublimieren. Er liebt sie mit Haut und Haaren, immer und immer wieder kommt die dringliche Versicherung, "dass ich alles alles alles an Dir mag." Zu sagen, dies seien sinnliche Briefe, wäre untertrieben. Antunes lässt allen männlichen Überdruck aus dem Füller fließen, er beschreibt erotische Phantasien, in denen ganze Wohnblöcke erzittern und legt sich ihr zu Füßen: "Du weißt genau, dass du das Beste an mir bist, meine beste Eigenschaft und mein Brasilien."

Maria José, die in dem ganze Buch keinen Namen trägt, und auch im Klappentext nur als Ehefrau und Mutter auftaucht, bat ihre Töchter vor ihrem Tod darum, die Briefe zu veröffentlichen. Die beiden Frauen, die während der Niederschrift dieser Briefe auf die Welt gekommen sind, schreiben in ihrem kurzen Vorwort: "Dieses Buch ist das Buch der Liebe unserer Eltern, aus der wir entstanden sind und auf die wir stolz sind".

Soviel Hoffnung spricht aus den Briefen, auf ein erfülltes Leben, später, wenn der Irrsinn des Krieges vorbei sein wird: "Weißt Du, ich kann dem hier standhalten, weil ich den Blick auf die unendliche Zukunft gerichtet habe, die wir beide haben werden, um uns langsam, genießerisch, sinnlich zu verschlingen wie zwei Oktopusse, die einander mit ihren Tausenden von Tentakeln aussaugen." Umso schmerzhafter ist es, zu wissen, dass Lobo Antunes sich 1978, kurz nach der Nelken-Revolution von seiner Frau trennte.