18-11-2005

 

Nach Sibirien verbannten

Nach Sibirien verbannt. Als Jude von Czernowitz nach Stalinka, 1941–1994, von Julius Wolfenhaut

Am östlichen Fenster. Gesammelte Geschichten aus Czernowitz und aus der sibirischen Verbannung, von Margit Bartfeld-Feller

 

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.2005, Nr. 171 / Seite 7

Nur die Sprache

HANS-JÜRGEN DÖSCHER

Julius Wolfenhaut: Nach Sibirien verbannt. Als Jude von Czernowitz nach Stalinka 1941-1994. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2005. 186 Seiten, 9,90 [Euro].

 

26. Juli 2005 VERBANNUNG. Julius Wolfenhaut wurde 1913 in der Stadt Czernowitz/Bukowina geboren, die seinerzeit zum Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn gehörte und nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien fiel. Die jüdische Familie Wolfenhaut war und blieb dem deutschen Kulturkreis verbunden, ungeachtet des auch in Rumänien zunehmenden Antisemitismus. Nach dem Abitur konnte Julius Wolfenhaut zwar noch ein Ingenieurstudium absolvieren, doch auf die Rumänisierung der Bukowina folgte 1940 deren Sowjetisierung, die seine weitere Lebensplanung zunichte machte. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt geriet die Bukowina in den sowjetischen Machtbereich. Nach dem Einmarsch der Roten Armee (1940) wurden Juden als "Bourgeois" und angebliche "Konterrevolutionäre" verfolgt und teilweise in die sibirische Taiga deportiert. Als "sozialgefährliches Element" mußte der junge Diplomingenieur zunächst Schwerstarbeit auf einer Kolchose leisten und später minderjährige Kriminelle in der Gebietshauptstadt Tomsk unterrichten. Im Zuge der Entstalinisierung hoben die sowjetischen Behörden seine Verbannung 1956 zwar auf, verweigerten ihm aber die Rückkehr in seine Heimat. Wolfenhaut arbeitete dann weitere 25 Jahre als Deutschlehrer in Tomsk. Die Vermittlung der deutschen Sprache und Literatur wurde ihm zur Profession. 1994, nach seiner Rehabilitierung im Alter von 80 Jahren, konnte er in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln. Seither lebt er in Regensburg. In seinen Erinnerungen schildert Wolfenhaut - höchst eindrucksvoll und beklemmend zugleich - die über 50 Jahre währenden Demütigungen und Entbehrungen eines Menschen, der mit dem "doppelten Brandmal" (Verbannter und Jude) im Sowjetsystem um sein Lebensglück gebracht worden ist. Nach einem halben Jahrhundert "Praxis in Sibirien" sitzt ihm die "bleiche, würgende" Angst vor dem Stalinismus und der sowjetischen Geheimpolizei noch immer in den Gliedern. Es gab "keine Gemeinheit, deren sie nicht fähig" gewesen seien. "Die Bolschewiki hatten mir alles genommen: die Eltern, die Jugend, die Liebe, die Habe, die Heimat; sie hätten mir auch die Sprache genommen - wenn sie es vermocht hätten", lautet sein Fazit. Der Berliner Historiker Wolfgang Benz hat diesen einzigartigen Erinnerungen ein einfühlsames und instruktives Vorwort gewidmet.

 
 

 

N Z Z  Online

Neue Zürcher Zeitung, 24. August 2005, Ressort Feuilleton

Julius Wolfenhaut: Nach Sibirien verbannt. Als Jude von Czernowitz nach Stalinka, 1941–1994. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2005. 186 S., Fr. 17.90.

 

Margit Bartfeld-Feller: Am östlichen Fenster. Gesammelte Geschichten aus Czernowitz und aus der sibirischen Verbannung. Hg. von Erhard Roy Wiehn. Hartung-Gorre-Verlag, Konstanz 2002. 256 S., € 30.95.

 

Margit Bartfeld-Feller: Unverloren. Weitere Geschichten aus Czernowitz und aus der sibirischen Verbannung. Hartung-Gorre-Verlag, Konstanz 2005. 102 S., € 14.80.

Von Czernowitz nach Stalinka

Erinnerungen an die Schrecken der sibirischen Verbannung

Markus Bauer

Eine Foto zeigt den alten Mann 1991 im sibirischen Tomsk bei der Niederschrift seiner Erinnerungen: kahlhäuptig, mit der Brille auf der Nase, konzentriert, den Bleistift in der Hand. Heute lebt er, über 90-jährig, in Regensburg und hat seine Erinnerungen an sein langes unfreiwilliges Leben in Sibirien noch einmal überarbeitet.

Julius Wolfenhaut ist ein Sohn des heute vielfach verklärten Czernowitz am östlichsten Rand des habsburgischen Imperiums. Er erzählt von seiner behüteten und fröhlichen Kindheit und Jugend in der k. u. k. Metropole. Wenn sich auch mit der Zugehörigkeit zu Rumänien nach 1919 die Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung deutlich verstärkten, so erlebte Wolfenhaut als Student in Brünn und aufstrebender Ingenieur diese Nachkriegszeit als die einer jeunesse dorée, die bei allen Widrigkeiten der Zeitläufte sich ihres Anspruchs an die Zukunft sicher war.

Brutale Zäsur

Das unerwartete, lebensentscheidende Ereignis stellte jene «Russenjahr» genannte Zäsur dar, als die angrenzende Sowjetunion 1940 infolge des Ribbentrop-Molotow-Abkommens – das diese Annexion allerdings nicht vorsah – die rumänische Nordbukowina besetzte. Zum Schicksalstag wurde der 10. Juni 1941, kurz vor dem deutsch-rumänischen Überfall auf die Sowjetunion, als nachts der junge Mann mit seiner Mutter – der Vater, ein Kaufmann, war bereits seit einem Jahr in Haft – zusammen mit Tausenden anderen jüdischen Bürgern abgeholt und in Viehwaggons am Bahnhof gepfercht wurde. Drei Tage später begann die wochenlange ungewisse Reise in den fernen Osten. Als man Tomsk erreicht hat, wird auf Boote umgestiegen, und die Deportierten fahren tagelang auf dem Fluss Wassjugan in die öde Steppe hinein, bis kümmerliche Bauerndörfer das «neue Kontingent» aufnehmen müssen. Hier erfahren die Czernowitzer, dass sie zu fünfundzwanzig Jahren Verbannung und Zwangsarbeit in der Kolchose verurteilt seien. Es beginnt ein schwerer Kampf gegen den Hunger und die von ihm verursachten Krankheiten, dem die Mutter schon nach einigen Monaten erliegt. Der Vater war in einem Lager des Gulag bereits verstorben.

Auf primitivste Methoden des Überlebens in den von Myriaden von Mückenschwärmen und krassen Temperaturunterschieden geprägten kargen Taiga-Sümpfen zurückgeworfen, verbringt Wolfenhaut die harten Jahre der Kriegszeit als Arbeiter im Kolchos und danach als Angestellter in einem Holzbetrieb. Später darf der junge Ingenieur als Lehrer an eine Schule für junge Delinquenten nach Tomsk gehen. 1946 ist seine errungene Position durch die Drohung gefährdet, wieder nach Stalinka am Wassjugan zurückkehren zu müssen. Es gelingt ihm, dieses Fast-Todesurteil in eine Lehrerstelle in Telgudet umzuwandeln, die er erst 1960 wieder mit Tomsk tauschen darf, wo er auch an der Universität die deutsche Sprache unterrichtet. In bescheidenen Verhältnissen lebend, hat Wolfenhaut in Telgudet eine Familie mit einer ebenfalls verbannten Russin gegründet. Als die letzte Regierung der DDR die Möglichkeit der Aufnahme von Juden aus dem zerbröckelnden Sowjetreich bietet und die neue Bundesrepublik diese Verpflichtung übernimmt, verlässt der Czernowitzer ohne Zögern nach fünfzig Jahren das ungeliebte Land der Deportation.

Wolfenhaut erwähnt ein Mädchen aus der Czernowitzer Goethegasse, das ebenfalls mit seiner Familie in dem langen Güterzug an den Wassjugan deportiert wurde. Auch Margit Bartfeld-Feller hat erst nach fünfzig Jahren die Sowjetunion verlassen können und ist nach Israel gegangen, wo sie ihre bemerkenswerten Erlebnisse in der Zeitschrift der Alt-Czernowitzer, «Die Stimme», in kleinen Erzählungen veröffentlichte. Ganz anders als der seine Texte durch historische Literatur belegende und die sowjetische Diktatur scharf anklagende Wolfenhaut schreibt Bartfeld-Feller aus einer vitalen Erinnerung an die prägende Zeit in Czernowitz. Tief in ihrem Gemüt verborgen, sind es die Kindheits- und Jugenderlebnisse in der Familie und die engen Freundschaften, die eine ungebrochene Lebenskraft in ihr freisetzen. Sie lassen die junge Frau in Sibirien den Tod des Vaters, die schwere körperliche Arbeit, Hunger, Krankheiten und Diskriminierung überstehen.

Ausreise nach Israel

In Czernowitz war sie mit der im Holocaust von Transnistrien an Typhus gestorbenen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger in einer Klasse. In Bartfeld-Fellers Familie rezitierte der jiddische Dichter Elieser Steinbarg seine Kinderlieder, Itzig Manger las auf sommerlichen Ausflügen nach Kimpolung und Dorna Watra in der Südbukowina seine jiddischen Verse. Sie selbst musizierte und war eine ansprechende Pianistin. Alles setzt sie daran, in der Verbannung mit der Mutter und ihrem Ehemann Kurt Feller den Kontakt zu den Czernowitzern unter den aus vielen Gegenden der Sowjetunion Deportierten zu erhalten und zugleich neben der schweren körperlichen Arbeit im Wald, in Fabriken, auf dem Fluss die alten Gewohnheiten zu bewahren, zu lesen, zu singen und zu musizieren. Die junge Frau wird Musiklehrerin und kann sich später in Tomsk mit ihrem Mann niederlassen. Sie berichtet von Reisen in der Sowjetunion, auch nach Czernowitz, das Wolfenhaut nie wieder gesehen hat. Mit Mutter und Tochter gelingt ihr spät die Ausreise nach Israel. Sie bildet nun so etwas wie ein Zentrum der weltweit vernetzten Czernowitzer Überlebenden der Sibirien-Verbannung.

 

From: Czernowitz / Bukowina

Czernowitz in Sibirien.

Zu Margit Bartfeld-Fellers Erinnerungen an ihre Verbannung

Othmar Andrée

Margit Bartfeld-Feller. Wie aus ganz anderen Welten. Erinnerungen an Czernowitz und die sibirische Verbannung. Hrsg. Von Erhard Roy Wiehn. Konstanz. Hartung Gorre 2000. 72 Seiten. ISBN 3-89649-527-5. 22,00 DEM.

"Es ist hier nicht die Rede von einer Wiederherstellung All(Pan)europas und schon gar nicht eines Kaiserreichs, auch nicht von einem Versuch ... Geschichtsschreibung hat nichts mit Einzelschicksalen zu tun." So gemäß der in Tel Aviv erscheinenden Zeitschrift "Die Stimme" Dan Diners Einlassung anlässlich der Tel-Aviv-Konferenz "Czernowitz as Paradigm" im Herbst 1999.

Nun konterkariert niemand dieses Verdikt deutlicher, entschlossener und beharrlicher als Erhard Roy Wiehn mit seiner Schriftenreihe zur Schoah, die mittlerweile einige hundert Titel umfassen dürfte.

Natürlich will heute niemand ein Kaiserreich auf deutsch-österreichischem Boden, kein Wort darüber, aber dies, das letzte, das von den Einzelschicksalen, ist nicht sehr freundlich gesagt und gedacht jenen gegenüber, die qua ihres Einzelschicksals Historiografie gleichsam erst ins Lebens rufen, ermöglichen und deren Fundament begründen. Dan Diners Worte zeugen von einer Arroganz, die Wissenschaft fern vom Menschen erfinden möchte, wo sie nichts verloren hat: im leeren Raum, in der Utopie, in der Gefangenschaft ihrer Selbstreferenz. Die Missachtung ihres Schicksals, wo und wann immer, das haben die Menschen nicht verdient, deren letztes, oft allerletztes Anliegen es war, uns Botschaft zukommen zu lassen von den Ungeheuerlichkeiten, denen sie (und jeder für sich als Einzelner) vor über einem halben Jahrhundert sehendes Auges gegenüberzutreten hatten. Wo wollen wir denn ihr Wort, ihren Schrei, das Vermächtnis ihrer Erinnerungen ansiedeln, wenn nicht dort und nur dort, in der Geschichtsschreibung?

Neben einer kaum zu überblickenden Zahl von Zeitzeugen des Holocaust und seines Begleitszenarios hat das Margit Bartfeld-Feller getan mit der Implementierung der Wiehnschen Schoah-Reihe durch ihre Erinnerungen in Form einer Trilogie, deren letzter Band uns jetzt vorliegt. Nach dem Buch "Dennoch Mensch geblieben" (1996), dem Kompendium "Nichts ins Nichts gespannt" (1998), nun die Sammlung "Wie aus ganz anderen Welten". Es scheint, als wolle Bartfeld-Feller damit ein autobiografisch geprägtes Werk schließen, das sein Movens sicher mehr aus der Aufarbeitung der sechzig Jahre zurückliegenden Ereignisse schöpft als im Revue-Passieren-Lassen eines äußerst bewegten Lebens.

Bartfeld-Feller, Jahrgang 1923, kann getrost jenem Kreis von Czernowitzern zugerechnet werden, die noch eine physische Verbindung zu dieser Stadt aus der Zeit zwischen den beiden großen Kriegen vorweisen können. Aufgewachsenen in begüterten Verhältnissen mit Sommerfrische in den Karpaten und Privatgymnasium, war es schiere Ungeheuerlichkeit, im Sommer 1941 zusammen mit der Familie, mit Vater, Mutter und kleinem Bruder gleichsam über Nacht von den Sowjets ins ferne Sibirien deportiert zu werden.

Bartfeld-Feller schlägt für uns ein Brevier erschütternder Ereignisse auf, denen vor allem ihr eigener Vater, aber auch viele der mitdeportierten Czernowitzer und Bukowiner Juden - insbesondere in den ersten Monaten und Jahren der Verbannung im sibirischen Dörfchen Krassnojarka - zum Opfer fielen. Die heute in Tel Aviv lebende Schriftstellerin, die ihren vierten Band vorbereitet, liefert einen Reigen skurriler und abgründiger Kurzgeschichten und Skizzen, die den Leser oftmals fassungslos zurücklassen. Nicht immer wird der biographisch-chronologische, oft auch kausale Zusammenhang ihrer Darstellungen deutlich. Gelegentlich gleiten ihre Schilderungen ins Anekdotenhafte ab. Oft wünscht man sich mehr Nähe und Lebendigkeit, nicht weniger ein höheres Maß an geschärftem Detailbewusstsein und epischer Breite. Doch sollte man sich hüten, Bartfeld-Fellers Erzähldiktion zu unterschätzen, die - dominiert vom faszinierend gütigen Wesen dieses Menschen - nie auf Wirkung setzt und viel zu nüchtern ist, als dass man der Würde und der Glaubwürdigkeit ihrer Erzählungen ein Jota rauben könnte. Wer sich mit der Geschichte der Bukowina befasst, kommt an dieser Autorin und ihrem Werk nicht vorbei.

 

Siberia as a Mental Map in German Imagination, 1850—1990

Eva-Maria Stolberg

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In June 1941 the young Jewish girl Margit Bartfeld, born in Czernowitz, has been deported by the Red Army to faraway Siberia. She describes the acting of the Soviet troops as brute. Although the deported Jews escaped the Holocaust, they were suffering from unbelievable pain in Stalinist labor camps. Margit Bartfeld describes her arrival in the Siberian labor camp with a feeling of hopelessness and uncertainty that only ends when she gets to know Niura, a Russian urchin whose parents have been deported and died in Siberia some years ago. These children experienced that with the arrest and death of their parents their childhood ends[24]. It was the janus-faced character of Stalinism that the system attracted with spectacular propaganda young people to the east for the construction of cities like Komsomol’sk-na-Amure, on the other hand it created a flood of urchins by deporting their parents[25]. Not before Stalin’s death normality turned back into Margit Bartfeld’s life. After the dissolution of the labor camps, Margit married and stayed with her family in Siberia that became a new home. In 1990 she emigrated to Israel. It is worth-mentioning that Margit’s life and that of other deported Jewish juveniles in Siberian labor camps was so isolated that they did no hear of the Holocaust before 1957 (Margit Bartfeld-Feller, Nicht ins Nichts gespannt. Von Czernowitz nach Sibirien deportiert. Juedische Schicksale 1941-1947, Konstanz 1998, pag. 101).

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