Der Kampf um Warschau 1944

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DIE ZEIT 29.07.2004 Nr.32

Nationalsozialismus

Verlassen von der ganzen Welt

Der britische Historiker Norman Davies hat ein monumentales und sehr lesbares Werk über den gescheiterten Warschauer Aufstand vorgelegt

Von Elke Schubert

Norman Davies: Aufstand der Verlorenen

Der Kampf um Warschau 1944; aus dem Englischen von Thomas Bertram; Droemer Knaur Verlag, München 2004; 816 S., 29,90 ¤

Um den Warschauer Aufstand, dessen Beginn sich am 1. August zum 60. Mal jährt, ranken sich zahlreiche Missverständnisse, Lügen und Irrtümer. »Dieser Tag wird in Polen immer ein schwieriges Datum bleiben«, schrieb der polnische Historiker Wodzimierz Borodziej in seiner vor ein paar Jahren erschienenen Untersuchung Der Warschauer Aufstand 1944 (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2004; 252 S., 12,90 ¤), die sich vor allem mit dessen Wirkung auf die polnische Nachkriegsgesellschaft beschäftigt. Weil die Sowjetunion eine unrühmliche Rolle beim Scheitern des Aufstandes spielte, verwundert es nicht, dass erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocksystems am Rande der Warschauer Altstadt ein Denkmal errichtet wurde. Und als 1994 der 50. Jahrestag begangen werden sollte, schlug nicht nur Russland die Einladung aus, auch gegen die Anwesenheit des damaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog regte sich heftiger Protest.

Schwierig ist dieses Datum bis heute auch deshalb, weil keiner der Beteiligten in einem guten Licht erscheint: weder die Sowjetunion, deren Rote Armee vor den Toren der Stadt stand und nichts unternahm, um die Aufständischen zu unterstützen, noch die polnische Exilregierung und die westlichen Alliierten, die der Untätigkeit ihres Verbündeten nichts entgegensetzten. Über 180000 Warschauer, die meisten Zivilisten, kostete dieses Zögern das Leben, und die Altstadt mit ihren unschätzbaren Kulturgütern wurde dem Erdboden gleichgemacht, nachdem die Einwohner in Massen geflohen waren.

Gesamtdarstellungen des Aufstandes sind rar, und auch die wissenschaftliche Forschung hat dieses für Polen so traumatische Ereignis jahrzehntelang nahezu ignoriert. Der britische Historiker und Osteuropaexperte Norman Davies setzt sich nun in einem monumentalen Buch mit den Vorbedingungen, dem Ablauf und den Nachwirkungen des Aufstandes auseinander und hat in bester angelsächsischer Tradition ein erstaunlich lesbares Ergebnis vorgelegt. Seine Sympathie gilt eindeutig den Aufständischen, die das Unmögliche wagten und von der ganzen Welt verlassen wurden. Ein Grund für das mangelnde Forschungsinteresse liegt für ihn auch darin, dass zahlreiche Quellen bis heute kaum zugänglich sind, beispielsweise die britischen Geheimdienstarchive, die Aufschluss über das Verhalten der Alliierten geben könnten.

In drei Teilen verfolgt Davies die Ereignisse: Im ersten wird die Situation vor dem Beginn des Aufstandes ausgelotet. Der zweite Teil beschäftigt sich minutiös mit den 63 Tagen der verzweifelten Erhebung bis zur Kapitulationsunterzeichnung. Im letzten Teil untersucht Davies die Nachkriegsgeschichte bis ins Jahr 2000 hinein. Dabei erzählt er die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln.

Die Alliierten wollten Stalin nicht verärgern

Davies untersucht die Vorbedingungen bei den westlichen Alliierten, die ihren Verbündeten Stalin nicht düpieren wollten; dann zeigt er den Terror der deutschen Besatzer und seine Auswirkungen auf den Widerstand. Der erste Teil endet mit der Bewertung von Stalins Interessen, welche die Befreiung Polens nicht der Londoner Exilregierung und den Aufständischen überlassen wollten. Aber noch weitere Faktoren haben entscheidend zum Scheitern beigetragen. Die Exilregierung verlor in dem Moment die Kontrolle über die Aufständischen, als diese den Tag der Erhebung früher ansetzten. Die Führer der polnischen »Heimatarmee« (AK) hatten dennoch nur mit einigen Tagen eines alleinigen Kampfes gerechnet und auf die Hilfe der Alliierten vertraut. Darauf warteten sie bekanntlich vergebens. Auch auf weitere Waffenlieferungen, denn in Warschau herrschte eine dramatische Knappheit, weil viele Waffen ins Umland geschmuggelt worden waren. Und nicht nur die Rücksicht auf Stalins Interessen ist den Alliierten anzulasten, sondern auch die mangelnde Koordination untereinander. Alles in allem erwecken diese Versäumnisse den Eindruck, als hätten die potenziellen Verbündeten kein Interesse am Gelingen des Aufstandes gezeigt.

Davies kommt zu dem Schluss, dass der Warschauer Aufstand in einem Gesamturteil über den Zweiten Weltkrieg unbedingt berücksichtigt werden müsse. »Der entscheidende Punkt in Warschau ist … nicht, dass es zu Missverständnissen wegen des alliierten Beistands kam, sondern dass trotz zweier Monate, in denen Hilfsmaßnahmen hätten ergriffen werden können, kein Konsens zwischen den Alliierten erreicht wurde.« Für ihn spielen diese 63 Tage eine entscheidende Rolle beim Entstehen des jahrzehntelang andauernden Kalten Krieges. Militärisch gesehen sei der Aufstand zudem das »archetypische Vorbild des Guerillakrieges« und ein abschreckendes Beispiel für Zweckbündnisse, bei denen sich jeder Beteiligte an seinen eigenen Interessen orientiert. Nicht vergessen hat Davies verdienstvollerweise jene Männer und Frauen, die in Warschau kämpften und nach der Niederlage in Verstecken und Gefangenenlagern verschwanden. Nach dem Ende des Krieges war ihr Leidensweg noch lange nicht zu Ende, waren sie doch eine ständige Mahnung an Versagen und Kalkül im »großen vaterländischen Krieg« der Sowjetunion.