16-10-2005

Hilde Domin

(geb. 1909, Hildegard Löwenstein)

(gest. 22-2-2006)

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Ich will dich

Freiheit
ich will dich
aufrauhen mit Schmirgelpapier
du geleckte

(die ich meine
meine
unsere
Freiheit von und zu)
Modefratz

Du wirst geleckt
mit Zungenspitzen
bis du ganz rund bist
Kugel
auf allen Tüchern

Freiheit Wort
das ich aufrauhen will
ich will dich mit Glassplittern spicken
daß man dich schwer auf die Zunge nimmt
und du niemandes Ball bist

Dich
und andere
Worte möchte ich mit Glassplittern spicken
wie Konfuzius befiehlt
der alte Chinese

Die Eckenschale sagt er
muß
Ecken haben
sagt er
Oder der Staat geht zugrunde

Nichts weiter sagt er
ist vonnöten
Nennt
das Runde rund
und das Eckige eckig

 

I want you

 

Freedom

I want you

rough you up with emery paper

you, spit-polished

 

(the one I mean

mine

ours

Freedom from and to)

Fashion mug

 

You are licked

with the tip of tongues

until you’re fully round

ball

on all felts

 

Freedom word

I want to rough up

I want to dress up with glass splinters

so that it comes hard to take you on the tongue

and you’re nobody’s ball

 

You

and other

words I want to dress with glass splinters

As Confucius commands

the old Chinaman

 

A square bowl he says

must

have corners

he says

on the state will perish

 

nothing else, he says

is necessary

call

round round

and square square

 

 

 

 

 

 

April

 

 

Die Welt riecht süß
nach Gestern.
Düfte sind dauerhaft.

Du öffnest das Fenster.
Alle Frühlinge
kommen herein mit diesem.

Frühling der mehr ist
als grüne Blätter.
Ein Kuß birgt alle Küsse.

Immer dieser glänzend glatte
Himmel über der Stadt,
in den die Straßen fließen.

Du weißt, der Winter
und der Schmerz
sind nichts, was umbringt.

Die Luft riecht heute süß
nach Gestern –
das süß nach Heute roch.
 

 

              April

 

 

The world smell sweetly

of yesterday.

Scents are lasting.

 

Open the window.

All springs

enter with this one.

 

A spring that is more

than green leaves.

One kiss holds all kisses.

 

Always this smoothly glazed

sky over the city

into which the streets flow.

 

You know winter

and pain

are not killers.

 

The air today smells sweetly

of yesterday –

which smelled sweetly of today.

 

 

 

 

 

Herbstaugen

  

Presse dich eng

an den Boden.

 

Die Erde

riecht noch nach Sommer,

und der Körper

riecht noch nach Liebe.

 

Aber das Gras

ist schon gelb über dir.

Der Wind ist kalt

und voll Distelsamen.

 

Und der Traum, der dir nachstellt,

schattenfüssig,

dein Traum

hat Herbstaugen.

 

Autumn eyes

 

Press your body

close to the ground.

 

The earth

still smells of summer,

and the body

still smells of love.

 

But the grass

is turning yellow over you.

The wind is cold

and full of thistle seeds.

 

And the dream that haunts you

on shadow-feet,

your dream

has autumn eyes.

 

 

 

 

 

 

Nicht müde werden

 

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

 

        Do not grow weary

 

Do not grow weary

but gently

to the wonder

as if a bird should light

hold out your hand.

 

 

 

 

Geburtstage

 

1

Sie ist tot

heute ist ihr Geburtstag
das ist der Tag
an dem sie
in diesem Dreieck
zwischen den Beinen ihrer Mutter
herausgewürgt wurde
sie
die mich herausgewürgt hat
zwischen ihren Beinen

sie ist Asche
 

2

Immer denke ich
an die Geburt eines Rehs
wie es die Beine auf den Boden setzte
 

3

Ich habe niemand ans Licht gezwängt
nur Worte
Worte drehen nicht den Kopf
sie stehen auf
sofort
und gehn
 

 

        Birthdays

 

1

She is dead

 

today is her birthday

this is the day

on which she

in this triangle

between the legs of her mother

was pushed forth

she

who pushed me forth

between her legs

she is ashes

 

2

Always I think

on the birth of a deer

the way it sets its legs on the ground

 

3

I’ve forced no one into the light

only words

words do not turn the head

they stand up

immediately

and walk off

 

 

 

 

 

 

 

Unaufhaltsam

 

Das eigene Wort,wer holt es zurück,
das lebendige
eben noch unausgesprochene
Wort?

Wo das Wort vorbeifliegt
verdorren die Gräser,
werden die Blätter gelb,
fällt Schnee.
Ein Vogel käme dir wieder.
Nicht dein Wort,
das eben noch ungesagte,
in deinen Mund.
Du schickst andere Worte
hinterdrein,
Worte mit bunten, weichen Federn.
Das Wort ist schneller,
das schwarze Wort.
Es kommt immer an,
er hört nicht auf,
anzukommen.

Besser ein
Messer als ein Wort.
Ein
Messer kann stumpf sein.
Ein Messer trifft oft
am Herzen vorbei.
Nicht das Wort.

Am Ende ist das Wort,
immer
am Ende
das Wort.

 

 

        Not to be stopped

 

Your own word

will retrieve it,

the living

a moment ago unspoken

word?

 

Where the word flies by

grasses wither,

leaves yellow

snow falls.

A bird may come back to you.

Not your word,

a moment ago unspoken

word into your mouth.

You send out other words

to catch it,

words with colored, soft feathers.

The word if quicker,

the black word.

It always arrives,

it never stops arriving.

 

Better a knife than a word.

A knife can be blunt.

A knife often

misses the heart.

Not the word.

 

At the end is the word

always

at the end

the word.

 

 

 

 

 

Köln

 

Die versunkene Stadt
für mich
allein
versunken.

 

Ich schwimme
in diesen Straßen.
Andere gehn.

 

Die alten Häuser
haben neue große Türen
aus Glas.

 

Die Toten und ich
wir schwimmen
durch die neuen Türen
unserer alten Häuser.

 

Cologne

 

The sunken city

sunk

for me alone

 

I swim

in these streets.

Others walk.

 

The old houses

have large new doors

of glass.

 

The dead and I

we swim

through the new doors

of our old houses.

 

 

 

 

 

 

Drei Arten Gedichte aufzuschreiben

 

1.
Ein trockenes Flußbett
ein weißes Band von Kieselsteinen
von weitem gesehen
hierauf wünsche ich zu schreiben
in klaren Lettern
oder eine Schutthalde
Geröll
gleitend unter meine Zeilen
wegrutschend
damit das heikle Leben meiner Worte
ihr Dennoch
ein Dennoch jedes Buchstabens sei

2.
Kleine Buchstaben
genaue
damit die Worte leise kommen
damit die Worte sich einschleichen
damit man hingehen muß
zu den Worten
sie suchen in dem weißen
Papier
leise
man merkt nicht wie sie eintreten
durch die Poren
Schweiß der nach innen rinnt
Angst
meine
unsere
und das Dennoch jedes Buchstabens


3.
Ich will einen Streifen Papier
so groß wie ich
ein Metrer sechzig
darauf ein Gedicht
das schreit
sowie einer vorübergeht
schreit in schwarzen Buchstaben
das etwas Unmögliches verlangt
Zivilcourage zum Beispiel
diesen Mut den kein Tier hat
Mit-Schmerz zum Beispiel
Solidarität statt Herde
Fremd-Worte
heimisch zu machen im Tun

Mensch
Tier das Zivilcourage hat
Mensch
Tier das den Mit-Schmerz kennt
Mensch Fremdwort-Tier Wort-Tier
Tier
das Gedichte schreibt
Gedicht
das Unmögliches verlangt
von jedem der vorbeigeht
dringend
unabweisbar
als rufe es
"Trink Coca-Cola"
 

        Three ways to write a poem

 

1

A dry river-bed

a white row of pebbles

seen for afar

on this I want to write

in clear letters

or the mounds

of a refuse dump

slipping beneath my lines

sliding

so that the precarious life of my words

their nevertheless shall be

a nevertheless in each letter

 

2

Small letters

exact

so that the words come softly

so that the words creep in

so that one must go

to the words

look for them

on the white

paper

softly

one does not notice how they enter

through the pores

sweat running into you

Fear

mine

yours

and this nevertheless in each letter

 

 

3

I want a strip of paper

as long as I am

a meter sixty

on it a poem

that cries

when someone passes by

cries in black letters

that demands something impossible

civil courage for example

the courage no animal has

pain-with for example

solidarity instead of herd

abstract words

made concrete through action.

 

Man

animal with civil courage

Man

that knows pain-with

Man abstract-word-animal word-animal

Animal

that writes poems

poem

that demands the impossible

from each passer-by

urgently

not to be pushed aside

as if it called

“Drink Coca Cola”

 

 

 

Abel steh auf

Abel steh auf
es muß neu gespielt werden
täglich muß es neu gespielt werden
täglich muß die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muß ja sein können
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rückgängig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
Ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein
Täglich steh auf
damit wir es vor uns haben
dies Ja ich bin hier
ich
dein Bruder
Damit die Kinder Abels
sich nicht mehr fürchten
weil Kain nicht Kain wird
Ich schreibe dies
ich ein Kind Abels
und fürchte mich täglich
vor der Antwort
die Luft in meiner Lunge wird weniger
wie ich auf die Antwort warte

Abel steh auf
damit es anders anfängt
zwischen uns allen

Die Feuer die brennen
das Feuer das brennt auf der Erde
soll das Feuer von Abel sein

Und am Schwanz der Raketen
sollen die Feuer von Abel sein

 

Abel arise

 

Abel arise

it must be played again

daily it must be played again

daily the answer must lie ahead

the answer yes must be made possible

if you don’t arise Abel

how shall the answer

the only significant answer

how shall it ever change

we can close all churches

abolish all law books

in all the languages of the globe

if only you rise

at make it unspoken

the first false answer

to the only question

that counts

arise

so that Cain says

so that he may say

I am your keeper

Brother

how could I not be your keeper

daily arise

that I may lie ahead

this yes I am here

I

your brother

so that the children of Abel

may no longer be afraid

because Cain will not be Cain

I am writing this

I a child of Abel

daily afraid

of the answer

the air in my lungs diminishes

as I wait for the answer

.

Abel arise

that there may be new beginnings

among all of us

 

The fires that burn

the fire that burns on the earth

shall be the fire of Abel

 

and at the missiles’ tail

shall be the fire of Abel.

 

 

 

All poems translated by Agnes Stein from: Four German Poets: Gunter Eich, Hilde Domin, Erich Fried, Gunter Kunert - Translated and Edited by Agnes Stein (Editor), Red Dust, N.Y.,   1980, ISBN: 0873760344

 

 

 

 

The TLS n.º 5408   November 24, 2006

 

Only a rose

 

Ben Hutchinson

 

Ilka Scheidgen

HILDE DOMIN

Dichterin des Dennoch

248pp. Lahr: Kaufmann. € 19.95.

3 7806 30125

The poetry of Hilde Domin, who died this year at the age of ninety-six, occupies a curious position in modern German literature. Never a purely “literary” poet, she has enjoyed a popularity with the common reader that induces suspicion among academies. The very virtues of her poetry, its clarity and affecting simplicity, are for some observers its principal vices. Despite much critical acclaim and many prizes in her long career, and despite the inevitable accolades which accompanied her death, her future reception remains uncertain.

Certainly her life story has become emblematic of the twentieth-century German-Jewish intellectual. Born Hilde Löwenstein in 1909, she studied in Heidelberg and Berlin before emigrating, initially lo Italy, in 1932. With the advent of war, Domin and her husband, the philologist Erwin Walter Palm, fled to England, where they only stayed long enough to be offered the sleeping draught Veronal by English doctors, in case they should need to avoid being captured alive by invading Nazis. In 1940 they shipped out to the Dominican Republic, where they would spend the next fourteen years teaching at the university in Santo Domingo.

It was the 1950s, however, that shaped Domin’s career as a poet. In 1951 her mother died, triggering what Domin called “a second birth”, her first attempts at poetry. In 1954 she and her husband finally returned to Germany from their Caribbean exile, and in 1957 she duly published her acclaimed first collection, Nur eine Rose als Stütze (“Only a rose for support”) — under the pseudonym Domin, in honour of her country of exile.

Yet what is striking about Domin’s work is that she is emphatically not a poet of exile, unlike so many of the leading German writers of her generation. She is rather, in Hans-Georg Gadamer’ s famous phrase, the exemplary “poet of homecoming”, whose search for a “second paradise” (the title of her only novel, Das zweite Paradies) became representative of postwar German experience. Indeed it is her insist­ence on a “Jasagen trotzdem” (“acceptance nevertheless”) that is the key lo her work. “In mir ist immer / Glaube”, she wrote, “als sei das goldene Seil / wer es auch auswirft / dem Notrufer / heilig / geschuldet” (“In me is always / belief, / as though the golden rope / whoever throws it out / were solemnly indebted / to the cry for help”). Her unshakeable optimism, her affirmation of common human values in a time of cataclysmic suffering, can be seen as a lifelong question: “Wozu Dichter in dürftiger Zeit?” (“What are poets for in destitute times?’). In this respect her much anthologized poem “Abel steh auf’, from the collection Ich will dich (1970), can be read as emblematic of her poetics of hope: “Abel steh auf / damit es anders anfãngt / zwischen uns allen” (“Abel ‘stand up / so that things may start afresh / between us”).

Ilka Scheidgen’s biography attempts to capture something of this indefatigable optimism. Domin’s life and work are so inextricably intertwined that a scholarly biography is certainly long overdue. Unfortunately, this book is little more than an introduction. Its shortcomings stem ultimately from a lack of objective distance: that the author was for many years a friend of the poet and could base her biography on countless discussions and interviews is in itself no bad thing, yet this also leads to a gushing tone and absence of critical balance. Again and again, Domin’s poems are breathlessly described as “wonderful” and “beautiful”, or well-known figures such as Camus are unnecessarily introduced as “the Nobel Prizewinner Albert Camus”; when combined with the absence of footnotes or corroborating critical material the style is at times nearer to women’s magazine than literary biography. This is, regrettably, the kind of thing that supports those who would see Domin as a poet of banalities.

Another basic problem, paradoxically, is the number of autobiographical essays which Domin herself has written. On the one hand, this makes the biographer’s job that much easier; yet it also means that it can be difficult to establish a separate authorial perspective. Particularly in the early chapters on Domin’s student years and exile, Scheidgen leans too heavily on these essays, merely presenting a competent summary of Domin’s published pieces.

The book improves, however, as it gets nearer the present day. Scheidgen contextualizes Domin’s work convincingly in the anti-literary polities of the 1960s and 70s, highlighting Domin’s resistance to the ideological posturing of the period. Her 1966 theoretical work Wozu Lyrik heute? and her pioneering 1968 anthology Doppelinterpretationen, in which she gave poets the chance to respond to their own work alongside the critics, established her as a stubbornly idiosyncratic voice, unprepared to yield to prevailing dogma. Scheidgen brings out here the influence of French existentialism: in the lectures which Domin gave as the prestigious Frankfurt Professor of Poetry in 1987—8, she pointedly defined the poem as a moment of freedom”, developing Camus’s myth of Sisyphus as an image of the “daily imperative to attempt the impossible”. For Domin, in contrast to Camus, the moral of this myth is not the acceptance of the absurdity of existence, but rather a belief in the possibility of its transformation, the “postulate of a second chance”.

The title poem of Domin’s final collection, Der Baum blüht trotzdem (1999), thus represents the culmination of a remarkably consistent poetics, stretching over some fifty years: “Der Baum blüht trotzdem / Immer haben die Bäume / auch zur Hinrichtung geblüht” (“The tree still blossoms / Trees have always blossomed / even for executions”). The juxtaposition here of rootedness with a moment of fugitive beauty, of horror with a moment of defiance, is typicalof Hilde Domin’s poetry, which seeks to eschew sentimentality and remain light and beguilingly naive, “hand in hand with language / to the last”. Despite the best efforts of this effusive biography, Karl Krolow’s description of her work as “Arielisch” remains the most accurate of conclusions.

 

 

27-7-1999

"Mit dem Namen einer Insel"

Skeptisch hoffend: Die Lyrikerin Hilde Domin wird 90 Jahre alt

Von Thomas Kastura

Wer Lyrik schreibt, betritt damit eine Sprachinsel. Die Dichterin Hilde Domin hat im doppelten Sinn ein "Inseldasein" geführt: "Die Domin gibt es erst, seitdem ich mit dem Schreiben von Gedichten begonnen habe", sagt sie. Aus Verbundenheit mit dem Inselstaat der Dominikanischen Republik, der ihr Asyl gewährte, war Domin ein Pseudonym, das auf ihre ersten, in Santo Domingo entstandenen Gedichte zurückgeht. 1951 wird aus der jüdischen Emigrantin Hilde Palm die Lyrikerin Hilde Domin. Eine zweite Geburt, wie sie schreibt. "Ich nannte mich / ich selber rief mich / mit dem Namen einer Insel."

Heute wird die Domin 90. Das hat sie aber erst vor zwei Wochen enthüllt. Bis dahin, so steht es in den Literaturlexika, war sie drei Jahre jünger. 1909 in Köln geboren, studierte sie Jura, Philosophie und politische Wissenschaften. 1932 sieht die Jüdin Hilde Palm die NS-Machtergreifung voraus. Mit ihrem späteren Mann, dem Kunsthistoriker Erwin Walter Palm, wandert sie nach Rom aus.

Während ihres 22 Jahre dauernden Exils verzichtet Domin auf eine Universitätslaufbahn und unterstützt ihren Mann. Mit Sprachunterricht und Übersetzungen in und aus dem Italienischen, dem Spanischen, dem Englischen und dem Französischen verdient sie den Lebensunterhalt. 1939 flieht das Ehepaar nach England, wo sie bis 1940 an einem College Sprachen lehrt.

Die Dominikanische Republik wird das dritte Asylland. Palm erhält dort eine Professur, Domin hilft ihm bei seinen Forschungen, lernt aber Architekturfotografie, ist ab 1948 Dozentin für Deutsch und bereist mehrmals die USA. Als ihre Mutter 1951 stirbt, fängt aus dem Leid heraus ihr neues Leben an: Sie tritt aus dem Schatten des Partners und beginnt zu dichten.

Nach Deutschland kommt sie als Ruferin zurück: "Ich stand auf und ging heim in das Wort. Von wo ich unvertreibbar bin. Das Wort aber war das deutsche Wort." Die Rose aus ihrem ersten Gedichtband "Nur eine Rose als Stütze" (1959) wird zum Symbol einer neugefundenen Sprache: "Ich richtete mir ein Zimmer ein in der Luft / unter den Akrobaten und Vögeln."

Doch ihre eigene Sprache sprechen auch die einstigen Verfolger: ein unauflösbarer Widerspruch, der neben den Exilerfahrungen und einem grundsätzlichen politischen Engagement ihr gesamtes Werk durchzieht: "Das äußerste Vertrauen und die Panik fallen hier zusammen, das Ja und Nein sind nie mehr zu trennen." Deshalb reduziert Hilde Domin die Sprache auf ein Destillat, das bei aller Klarheit dennoch viel Musikalität enthält.

Zuhause ist sie nicht nur in Heidelberg, wo sie seit 1961 lebt, sondern vier Jahre lang auch in Spanien. Zu ihren Vorbildern gehören Federico Garcia Lorca und Guiseppe Ungaretti, den sie neben anderen Autoren übersetzt hat. Surrealistische Elemente fließen in ihre Lyrik ebenso ein wie ein appellativer Ton, der zu Zivilcourage aufruft. Nach dem russischen Einmarsch in Prag dichtet sie: "Freiheit / ich will dich / aufrauhen mit Schmirgelpapier / du geleckte."

In die 60er Jahre fallen nicht nur die Gedichtbände "Rückkehr der Schiffe" und "Hier", sondern auch die Sammlung "Doppelinterpretationen", in der sie zu einem Gedicht jeweils den Autor und einen Interpreten zu Wort kommen läßt. Als Hans Magnus Enzensberger 1968 den Tod der Literatur verkündet, nimmt sie mit dem Essayband "Wozu Lyrik heute?" den impliziten Leser der Rezeptionsästhetik vorweg. Lyrik ist für sie etwas Offenes, Schwebendes, frei verfügbar für den aufmerksamen Gebrauch, "das Nichtwort / ausgespannt / zwischen Wort und Wort."

Domins erzählende Prosa und autobiographische Schriften illustrieren die großen Themen ihrer kunstvoll verdichteten Lyrik: den Verlust eines essentiellen Lebeninhalts, der zugleich mit dem Gewinn von etwas Neuem verbunden ist. Diese Poesie des Übergangs wird bestimmt von einem unerschütterlichen Glauben an die Solidargemeinschaft aller Menschen, an Frieden und Gerechtigkeit, der jedoch immer von Zweifeln durchsetzt ist.

Hilde Domin, das ist eine unwiderstehliche Mischung aus Lebensmut und Lakonie. In jeden Moment des Glücks ist das drohende Verhängnis schon eingewoben. Tröstung kommt nicht von außen, sondern von innen. Nachzulesen ist das unter anderem in dem im Juli erschienenen Band "Der Baum blüht trotzdem" (S. Fischer, Frankfurt/M. 1999. 90 S., 29,80 Mark), der auch einige bislang unveröffentlichte Gedichte enthält: "Niemand kann es glauben: Auch an blauen Tagen / bricht das Herz."

 

 

Im Wort zuhause

 

Die Dichterin Hilde Domin wird heuer 95 Jahre alt. Ihr Lebensmotto ist das »Dennoch«, ihre Gedichte sind »Lieder zur Ermutigung«. Ein Porträt von Ilka Scheidgen

Der Einladung von Hilde Domin sie zu besuchen bin ich mit großer Freude gefolgt. Das Haus im Graimbergweg in Heidelberg, das Haus mit dem Turmzimmer hoch über der Altstadt und ganz in der Nähe des Alten Schlosses kenne ich von früheren Besuchen schon gut. Seit ihrer Rückkehr aus dem 22-jährigen Exil wohnt Hilde Domin wieder in Heidelberg, das sie einmal ihre geistige Heimatstadt genannt hat

 

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Antwort an Christa Wolf

Die Sehnsucht
nach Gerechtigkeit
nimmt nicht ab
Aber die Hoffnung

Die Sehnsucht
nach Frieden
nicht
Aber die Hoffnung

Die Sehnsucht nach Sonne
nicht
täglich kann das Licht kommen
durchkommen

Das Licht ist immer da
eine Flugzeugfahrt reicht
zur Gewissheit

Aber die Liebe

der Tode und Auferstehungen fähig
wie wir selbst
und wie wir
der Schonung bedürftig

Aus: Hilde Domin, Gesammelte
Gedichte, 1978, S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main
 

Großbürgerliche Jugend. Es ist ein sonniger Tag, an dem ich mit Hilde Domin in ihrem Haus zusammentreffe. Eine helle, einladende und offene Atmosphäre in allen Räumen. Herzlich und natürlich die Gastgeberin. Natürlich – ein gern gebrauchtes Wort von Hilde Domin – im Sinne von selbstverständlich, absichtslos, fraglos. Hilde Domin wurde 1909 in Köln geboren, wo sie als Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts in einem liberalen, großbürgerlichen Haus aufwuchs. In Heidelberg begann sie – aus Bewunderung ihres Vaters – mit dem Jurastudium, wechselte dann zu Nationalökonomie und Soziologie. Sie erlebte die große Zeit von Heidelberg, lernte bei Professor Radbruch juristische Probleme von allen Seiten zu betrachten, bei Karl Mannheim das Relativieren des eigenen Standpunkts. Auch der berühmte Karl Jaspers gehörte zu ihren Lehrern. Seinen Satz »Im Scheitern kommt der Mensch zu sich selbst« an sich selbst zu erfahren, sollte die junge Studentin schon bald und in der Folgezeit reichlich Gelegenheit erhalten.

Weggang und Heimkehr. Als sich Anzeichen mehrten, dass in Deutschland der Nazismus eine unheilvolle Entwicklung nehmen würde, verließ sie 1932 gemeinsam mit ihrem zukünftigen Ehemann Erwin Walter Palm, dem Studenten der klassischen Philologie und Architektur, ihr Land Richtung Italien, wo sie beide ihre Studien fortsetzten. Es begann eine Odyssee durch viele Länder bis hin in die Dominikanische Republik, in der sie bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland zwölf Jahre lang lebten. Eine Sprachodyssee gleichermaßen, die mit der »Heimkehr ins Wort«, in die deutsche Sprache endete.
Eine Rückkehr in das Land, in dem unendlich viel Unrecht geschehen war, an den Juden vor allem. Dennoch kehrte Hilde Domin zurück, ohne Vorwurf, ohne Hass. Nach dem Verlust und jahrzehntelangem Entbehren der Zugehörigkeit, einer wirklichen Heimat, war diese Rückkehr für sie nicht eine Frage des Gefühls, sondern des Willens, des Wunsches, wieder mitverantwortlich zu sein. Es bedeutete die bewusste Hinwendung zum Land ihrer Geburt und ihrer Sprache, in dem es nun galt, »Vertrauen – das schwerste ABC« neu zu buchstabieren.
Ihre Geburt als Dichterin hat sie in der Fremde erlebt: »Wie ich, Hilde Domin, die Augen öffnete, die verweinten, in jenem Hause am Rande der Welt, wo der Pfeffer wächst und der Zucker und die Mangobäume, aber die Rose nur schwer, und Äpfel, Weizen, Birken gar nicht, ich verwaist und vertrieben, da stand ich auf und ging heim, in das Wort. Von wo ich unvertreibbar bin.«

Liebe und Urvertrauen. Obwohl Hilde Domin nie explizit vom Gottesglauben spricht, ist er stets immanent in ihren Werken. Er ist wohl so wenig zweifelhaft wie das Urvertrauen, das sie im Elternhaus erfahren hat, wie die Liebe, die zu den Grundbedingungen ihres Lebens gehört. Die Gewissheit und die bewusste Annahme des Nicht-heimisch-Seins, ihr Halt-Suchen und -Finden in den Lüften, unter den Vögeln, an der Rose ist immer am Zartesten, Vergänglichsten, Schwebenden festgemacht. Es ist die Conditio humana: zerbrechlich, ungewiss, verlierbar.
Unmoderne Vokabeln wie Glück, Heimat, Liebe, Wunder, Gnade zu gebrauchen hat sich Hilde Domin niemals gescheut. »Die Gnade ruht auf einem Augenblick«, antwortete sie jemandem im Gespräch auf die Frage, was uns denn heute so ein Wort noch solle. Gnade, auch Wunder – das sind heute keine aktuellen Worte mehr. Und doch ist wohl eines der schlichtesten und zugleich schönsten und ausdrucksstärksten Gedichte von Hilde Domin dieses: »Nicht müde werden / sondern dem Wunder / leise / wie einem Vogel / die Hand hinhalten.«

Entschieden für den Menschen. Hilde Domin ist eine radikal engagierte Frau, die auch heute noch bei zahlreichen Lesungen, Symposien, Seminaren und Gesprächsrunden nicht müde wird, die Menschen zur Verantwortungsbereitschaft aufzurufen. Sie sagt: »Ich kam als Rufer zurück.«
Schon früh in ihrem Leben, als sie mit ihrem Mann im Exil in Italien lebte, erkannte sie plötzlich, dass man sich für den Mitmenschen entscheiden könne und müsse. Dem Mitmenschen zu helfen ist seither zu ihrer zweiten Natur geworden. Mitschmerz zu empfinden, Solidarität zu praktizieren ist ihr nicht Pose, sondern geschieht »im Vorbeigehn / ganz absichtslos«. Denn: »Das ,Wunder‘ ... besteht für mich darin, nicht im Stich zu lassen. Sich nicht und andere nicht. Und nicht im Stich gelassen zu werden. Das ist die Mindest-Utopie, ohne die es sich nicht lohnt Mensch zu sein.«
Hilfe selbstverständlich zu geben und dankbar anzunehmen sind zwei Seiten derselben Münze: Mitmenschlichkeit. In dem Gedicht »Ich will dich« heißt es: »Freiheit /  ich will dich / aufrauen mit Schmirgelpapier/ ... Dich / und andere / Worte möchte ich mit Glassplittern spicken / wie es Konfuzius befiehlt / der alte Chinese / ... Nichts weiter sagt er / ist vonnöten / Nennt / das Runde rund / und das Eckige eckig.«
»Dies ist unsere Freiheit / die richtigen Namen nennend / furchtlos.« Um diese einfache Wahrheit geht es der Dichterin Hilde Domin. In ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen beschrieb sie diese Vorgänge so: »Jede kleinste Verschiebung zwischen dem Wort und der mit dem Wort gemeinten Wirklichkeit zerstört Orientierung und macht Wahrhaftigkeit von vornherein unmöglich.« Demzufolge sieht sie im Gedicht eine Möglichkeit und Aufgabe, »Funktion für alle« zu haben, »denn es hilft, die Wirklichkeit, die sich unablässig entziehende, benennbar und gestaltbar zu machen«.

Lebensmut und Dennoch. Das Lebensmotto der Hilde Domin ist das »Dennoch«. Es ist der Aufruf zu der täglichen Anstrengung, nicht die Hoffnung zu verlieren, etwas zu tun, damit möglich wird, »dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist« (Brecht). Es ist das Dennoch des Sisyphos, »diese Metapher der Widerständigkeit«, auf nichts basierend als vielleicht auf dem einmal erfahrenen Urvertrauen. Exemplarisch hat Hilde Domin erfahren, was es heißt, Unrecht zu erleiden, Unsicherheit, Unbehaustheit, Fremdsein, Ausgestoßensein. Ihre Erfahrungen, von denen sie wünscht, dass sie den jungen Menschen von heute erspart bleiben, hat sie in Dichtung umgemünzt, aber nicht in Anklage, vielmehr in »Lieder zur Ermutigung«.

Gnade als Geschenk. Ich lese Hilde Domin einen kurzen Text von Heinrich Böll vor: »Der Mensch ist ja ein Gottesbeweis. Ich meine die Tatsache, dass wir alle eigentlich wissen – auch wenn wir es nicht zugeben –, dass wir hier auf der Erde nicht zu Hause sind, nicht ganz zu Hause. Dass wir also noch woanders hingehören und von woanders kommen.« – »Das mit dem Zuhause unterschreibe ich sofort«, sagt sie lebhaft und verweist auf einen Satz von Else Lasker-Schüler: »Nur Ewigkeit ist kein Exil.«
»Ja«, sagt sie, »das Exil ist nur die Extremerfahrung der Conditio humana.« Und mit Böll sei sie sich darüber einig gewesen, der gesagt habe: »Wir wollen die geborenen Einmischer sein. Wir wollen nicht Wirklichkeit nehmen, sondern mithelfen Wirklichkeit zu schaffen.«
Ich frage Hilde Domin nach ihrem Glauben. Ob sie an Gott glaube. Das wolle sie offen lassen, gibt sie zur Antwort. »Wissen Sie«, sagt sie weiter, »ich glaube an die Gnade, die Gnade als ein Geschenk, welches einem zweckfrei und grundlos zuteil wird. Die Gnade als verpflichtendes Geschenk. Das Schreiben ist solch eine Gnade.«

Wer es könnte

Wer es könnte
die Welt
hochwerfen
dass der Wind
hindurchfährt.

Ja, Gnade als Geschenk. Von wem, frage ich. Das wolle, könne sie nicht beantworten. »Da ist natürlich etwas«, sagt sie. Und dass wir hier auf dieser Welt nicht ganz zuhause sind, wie Böll es sagt, das denkt sie auch. Und der Exilierte – sie sagt »Ex-Exilierte« – erfährt es in besonderer Weise. Aber wie und wo dieses Zuhause sei, will sie offen lassen. Vielleicht im Urvertrauen.
Ihr, die als Jüdin exemplarisch erfahren hat, wie ein Mensch bedroht wird, zum Opfer wird und von einem Augenblick zum nächsten zur Hilflosigkeit verurteilt wird, ist das Hauptanliegen die Verteidigung der Menschenwürde, »das Unverlierbare, ohne das Leben sinnlos ist«.
»Wissen Sie«, sagt sie plötzlich und sie sieht mich dabei an, als habe sie eine unerwartete Entdeckung gemacht, »ein Mensch, der wirklich gläubig ist, braucht das Dennoch nicht. Nicht wahr, das ist doch so. Dieser Gedanke ist mir eben zum ersten Mal gekommen.« Ich muss sie wohl erstaunt und ein wenig fragend angesehen haben. Wie selbst noch überprüfend, formuliert sie den soeben geäußerten Gedanken neu: »Wer an Gott glaubt, der braucht kein Dennoch. Wer (nur) an den Menschen glaubt, der braucht ein Dennoch.« Noch einmal schaut sie mich an, überlegt, nickt und sagt bekräftigend: »Ja, so ist es!«

Notrufer

In mir ist immer
Abschied:
Wie ein Ertrinkender
dessen Kleider
vom Meerwasser schwer sind
seine letzte Liebe
einer kleinen Wolke schenkt.

In mir ist immer
Glaube,
als sei das goldene Seil
wer es auch auswirft
dem Notrufer
heilig
geschuldet.

Das Echo der Enkel. »Ich bereite mich auf meinen Tod vor«, stellte sie mehrfach fest, als sie damit beschäftigt war, ihre gesamten Bücher und Schriften für den Nachlass zu katalogisieren, was ins Schillerarchiv nach Marbach und was in die Universität Heidelberg gehen soll. Es klang so, als hätte sie gesagt: »Ich gehe jetzt meine Blumen gießen.«
Mit Bedauern hat sich Hilde Domin mir gegenüber einmal ausgesprochen, dass sie keine Kinder habe. Ein ganz besonderes Anliegen ist es ihr daher vielleicht, auf Lesungen in Schulen und Universitäten junge Menschen mit ihren Gedichten zu erreichen. Und das Echo ist gerade in der »Enkelgeneration« enorm groß und noch immer im Steigen begriffen. So hat sich bereits ihre Hoffnung erfüllt, dass ihre Gedichte, als seien es ihre Kinder, weiterleben und etwas von ihrem Eigensten weitertragen.                             

"Nur eine Rose als Stütze"
 
Lyrikerin Hilde Domin gestorben

"Hand in Hand mit der Sprache/bis zuletzt", schrieb sie in einem Gedicht. Hilde Domin bereicherte die deutsche Lyrik mit Sprachmagie, Empathie und Scharfsinn bis ins hohe Alter. Gestern ist die Dichterin im Alter von 96 Jahren gestorben.

Sie sprach vom "Wohnsitz im deutschen Wort" und meinte damit jenes ideelle Zuhause, das blieb, als ihre Heimat von den Nazis zerstört, ihre Familie vertrieben und sie selbst zur Exilantin geworden war. 1909 als Tochter eines jüdischen Juristen in Köln geboren, erlebte Hilde Domin die Schrecken des Hitler-Regimes; sie verließ Deutschland bereits 1932 mit ihrem späteren Mann, dem Schriftsteller Erwin Walter Palm. Über Italien und England ging sie ins Exil in die Dominikanische Republik. 14 Jahre lang, von 1940 bis 1954, lebte sie in Santo Domingo als Übersetzerin und Architekturfotografin.

Literatur und Exil, das ist das Leitmotiv, das Domins literarisches Schaffen prägte. "Nur eine Rose als Stütze" hieß ihr erster Gedichtband und der Titel setzte das Vertrauen in die Literatur als lebenshelfende Kraft in ein eindringliches Bild.

Anders als Jean Améry oder Paul Celan, die nach der Barbarei der Nazis nicht weiterleben wollten, hielt Domin am Glauben an die Möglichkeit eines zivilisierten Deutschlands fest. "Nicht müde werden/sondern dem Wunder/leise/wie einem Vogel,/die Hand hinhalten", heißt es in einem frühen Gedicht.

Mit ihrem Debüt wurde sie schlagartig berühmt, Walter Jens lobte die "Vollkommenheit im Einfachen" - eine virtuose Schlichtheit, die die Dichterin zu einer der klangvollsten Stimmen der lyrischen Moderne in deutscher Sprache machte.

1961 kehrte sie mit Palm zurück nach Heidelberg, ihrem ehemaligen Studienort, wo sie bei Karl Mannheim und Karl Jaspers die Finessen der Sprach- und Gesellschaftskritik gelernt hatte. So war sie nicht nur die zarte Wortmagierin, die "das Gefieder der Sprache streicheln" lehrte, sondern auch eine theoretisch versierte Poetologin, die mit den "Doppelinterpretationen" und der Programmschrift "Wozu Lyrik?" brillierte.

Noch 1999, im Alter von 90 Jahren, legte die mit Preisen, Doktorwürden und der Ehrenbürgerschaft Heidelbergs bedachte Autorin einen Lyrikband vor: "Der Baum blüht trotzdem". In der Textsammlung, die Arbeiten aus allen Schaffensperioden umfasst, präsentierte Domin noch einmal die Mischung aus Optimismus und Lakonie, Klangmagie und Sprachökonomie."

"Gestorben wird auch an blauen Tagen / bei jedem Wetter / Auch an blauen Tagen / bricht das Herz", lautet ein früher Vers. Hilde Domin ist gestern in Heidelberg im Alter von 96 Jahren gestorben.

Daniel Haas

 

Text: F.A.Z., 24.02.2006, Nr. 47 / Seite 35

 

Hilde Domin: Außerhalb jeder Regel

Marcel Reich-Ranicki

 

Hilde Domin war - wie sie selber freimütig feststellte - „außerhalb jeder Regel“. In der Tat ist sie mit anderen deutschen Dichterinnen unserer Zeit nicht vergleichbar, immer ging sie ihren eigenen Weg, trotzig und eigensinnig.

Sie hat zur Fortsetzung und Intensivierung unseres Gesprächs über die Literatur viel beigetragen - mit Essays zur Theorie der Dichtung und mit wichtigen Anthologien, mit temperamentvollen Ansprachen auf Kongressen und auch, nicht selten, mit heftigen Leserbriefen.

Ungewöhnliches Glück

Doch vor allem war Hilde Domin Lyrikerin. Wo ist ihr Platz in der Geschichte der deutschen Literatur? Wir haben in der Poesie zwei große Ströme - den feierlichen, priesterlichen, sakralen von Hölderlin bis zu Stefan George und Paul Celan und den weltlichen und rationalen, der der Logik mehr als den dunklen Trieben verbunden war, den Strom also, für den Schiller und Heine stehen und Brecht. Goethe übrigens gehört hierhin und dorthin, er vereint (wie kein anderer) beide Ströme. Und Hilde Domin?

Sie hatte im Leben ungewöhnliches Glück: Sie hat in ganz jungen Jahren Erwin Walter Palm kennengelernt und mit ihm beinahe ihr ganzes Leben verbracht. Er war ein glänzender Kenner der Literatur, ein Archäologe und Kunsthistoriker und ein vorzüglicher Berater der Gattin, auf die er bisweilen sanft bremsend zu wirken vermochte. Und zweitens: Die Jüdin Hilde Domin hatte das Glück, die Zeit des „Dritten Reiches“ geradezu in einem Paradies zu verbringen. Sie lebte in einer fremden Welt, in der sie aber schreiben, dichten und lehren konnte. Sie war Lektorin an einer Universität in der Dominikanischen Republik.

Widerspruch und Widerstand

Was schrieb Hilde Domin im Exil, wo sie zu dichten anfing? Ihre früheste Poesie ist Widerspruch und Widerstand, Prüfung und Protest, Revision und Rebellion. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland bleibt ihre Dichtung Widerspruch und Rebellion - gegen Hartherzigkeit und Gleichgültigkeit, gegen Opportunismus und Konformismus. Sie ließ sich nicht beirren, sie hatte die Kraft zum Optimismus. In ihren besten Gedichten verband sie die Vorliebe für die knappe und prägnante, die schmucklose und weitgehend auf Metaphern verzichtende Sprache mit gedanklicher Klarheit.

Hilde Domins Poesie ist kühl und ruhig und auf eindrucksvolle Weise souverän, was nicht immer für ihre Prosa gilt. Auch diese ist hochherzig, doch neigt sie bisweilen zu jener Euphorie, die nicht jedermanns Sache ist. Falsch und bedauerlich ist es, daß man Hilde Domin oft auf Protestgedichte festgelegt hat. Man sollte ihre vor vierzig, ja fünfzig Jahren entstandenen Liebesgedichte nicht vergessen. Wie auch immer: Zur sakralen, zur priesterlichen Dichtung gehörte sie nie.

Und nicht vergessen sollte man, was für Hilde Domin das „Jude-Sein“ bedeutete - keine Glaubensgemeinschaft und keine Volkszugehörigkeit, vielmehr eine Schicksalsgemeinschaft: „Ich habe sie nicht gewählt wie andere Gemeinschaften. Ich bin hineingestoßen worden, ungefragt wie in das Leben selbst.“

  

N Z Z  Online

 

23. Februar 2006,   14:44, NZZ Online

Schriftstellerin Hilde Domin gestorben

Bedeutende Lyrikerin

Die Schriftstellerin Hilde Domin ist im Alter von 96 Jahren in Heidelberg gestorben. Sie begann als Lyrikerin, schrieb aber auch Prosa und autobiografische Werke.  Ihre theoretische Auseinandersetzung mit Poetik beeinflusste die Literaturwissenschaft.

(ap) Domin erlag am Mittwoch im Krankenhaus den Folgen eines Sturzes, wie der S.Fischer Verlag am Donnerstag in Frankfurt am Main mitteilte. Hilde Domin, die erst mit 42 Jahren zu schreiben begann, gilt als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen Deutschlands.

Hilde Domin wurde am 27. Juli 1909 als Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts in Köln geboren. Nach dem Abitur 1929 studierte sie drei Jahre lang Jura, Soziologie und Philosophie in Heidelberg, bevor sie 1932 mit ihrem späteren Mann Erwin Walter Palm nach Italien emigrierte. Dort heiratete das Paar 1936.

Leben im Exil

In Rom arbeitete Domin, die in Florenz promoviert hatte, bis 1939 als Sprachlehrerin. Dann flüchtete sie über England, wohin ihre Eltern emigriert waren, in die Dominikanische Republik. Dort lebte das Ehepaar Palm 14 Jahre lang. Hilde Domin arbeitete als Assistentin ihres Mannes, einem Kunsthistoriker, als Übersetzerin und als Fotografin.

«Zweites Leben»

Ihren Namen «Domin» nahm die Autorin in Erinnerung an ihren Aufenthalt in der Hauptstadt Santo Domingo an. In der Dominikanischen Republik begann auch ihr Leben als Schriftstellerin - «mein zweites Leben», wie sie sagte. Ihr erstes Gedicht schrieb sie im Jahr 1951. Von 1957 an veröffentlichte sie ihre Werke in Zeitschriften.

1959 erschien ihr erster Gedichtband «Nur eine Rose als Stütze». Als erste Prosaarbeit kam 1968 der Liebesroman «Das zweite Paradies», später schrieb Domin auch einige autobiografische Werke. Ihre Arbeiten wurden in mehr als 22 Sprachen übersetzt.

Rückkehr nach Deutschland

Weil Palm einen Lehrstuhl an der Universität in Heidelberg erhielt, kehrte das Ehepaar 1954 nach Deutschland zurück. Seit 1961 war Hilde Domin als freie Schriftstellerin tätig. Domin, die zahlreiche Literaturpreise erhielt und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes war, veröffentlichte neben Lyrik und Prosaschriften auch zahlreiche theoretische Beiträge zur Poetik sowie Essays. Ihren letzten Gedichtband «Der Baum blüht trotzdem» veröffentlichte Hilde Domin 1999 - im Jahr ihres 90. Geburtstags. Seit 1994 war die Schriftstellerin, die seit 1988 verwitwet war, Ehrenbürgerin der Stadt Heidelberg.